Asyl- und Migrationspolitik: «Das Wort ‹Haftlager› haben Sie gebraucht»

Nr. 27 –

Beat Jans ist seit einem halben Jahr Justizminister. Er fordert einen besseren Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete und erwägt die Beteiligung der Schweiz am europäischen ­«Solidaritätsmechanismus».

Portraitfoto von SP-Bundesrat Beat Jans
«Wenn wir die Grenzen dichtmachen, gerät unser Wohlstand tatsächlich in Gefahr»: SP-Bundesrat Beat Jans.

WOZ: Herr Jans, vor der Sommerpause hat der Bundesrat zur «Nachhaltigkeitsinitiative» der SVP Stellung bezogen: Er lehnt sie ohne Gegenvorschlag ab. Warum haben Sie keine Angst vor der viel beschworenen Zehn-Millionen-Schweiz?

Beat Jans: Diese Initiative gefährdet die bilateralen Verträge, die von der Schweizer Bevölkerung immer wieder unterstützt worden sind. Das würde den Königsweg im Verhältnis zur EU verunmöglichen. Hinzu kommt der immer akutere Fachkräftemangel. Ich sehe das in Gesprächen mit Arbeitgeber:innen, aber auch mit Vertreter:innen des Service public: In den nächsten Jahren gehen viele Menschen in Pension. Sie zu ersetzen, ist eine grosse Herausforderung. Allein bei der Post wird das bis 2030 ein Drittel des Personals sein. Müssen wir die Rezepte der Initiative umsetzen, wird es unmöglich, diese Dienstleistungen auch in Zukunft anzubieten.

Sie sollen als Justizminister ein «Begleitkonzept» für die Abstimmung erarbeiten. Welche Massnahmen haben Sie im Kopf?

Die steigenden Mieten sind unbestritten ein Problem. Darauf müssen wir eine Antwort geben. Wir führen zudem intensive Gespräche mit den Sozialpartnern, wir wollen sicherstellen, dass durch die Einwanderung kein Lohndruck entsteht. Zudem wollen wir Menschen, die schon in der Schweiz leben, den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern: Geflüchteten, aber auch Frauen nach der Geburt ihres Kindes. Wenn sie eine Stelle haben, wandern auch weniger ein. Die meisten Menschen, die zu uns kommen, kommen wegen eines Jobs.

Die Zuwanderung mindern: Das tönt jetzt wieder so, als sei diese per se ein Problem. Dabei werden die Ängste davor ja bewusst von rechts geschürt.

Wenn wir die Grenzen dichtmachen, gerät unser Wohlstand tatsächlich viel stärker in Gefahr. Die Schweiz hat immer schon stark von Zuwanderung profitiert. Die Bereitschaft, Menschen aufzunehmen und ihnen Entfaltungsmöglichkeiten zu geben, hat Wohlstand und Innovation gefördert und zu einem hohen Niveau in Forschung und Bildung geführt.

Sie sagen, dass Sie die Menschen in der Schweiz willkommen heissen wollen. Doch schon nach wenigen Wochen im Amt kündigten Sie «24-Stunden-Verfahren» für praktisch chancenlose Asylsuchende und ein – wir müssen es kurz ablesen – «Case-Management für kriminelle Intensivtäter» an. Mit dem jungen Mann aus dem Maghreb haben Sie sich auf einen altbekannten Sündenbock eingeschossen. Warum diese Anbiederung an die SVP?

Ich bin zum Schluss gekommen, dass wir Probleme haben, die wir lösen müssen. Meine Politik ist rein auf Fakten basiert: Menschen, die wissen, dass sie keine Chance auf Asyl haben, missbrauchen das System. Das bringt uns an unsere Kapazitätsgrenzen. Darum führen wir die Verfahren schneller durch. Wir haben auch festgestellt, dass junge Männer aus dem Maghreb für einen grossen Teil der Kriminalität rund um die Asylzentren verantwortlich sind. Ich war in Boudry und in Chiasso. Die Gemeindeverantwortlichen dort akzeptieren die Kleinkriminalität nicht mehr. Das sind Fakten, denen ich mich stelle. Das müssen wir lösen, um den Menschen, die wirklich Schutz benötigen, ein würdiges Verfahren zu ermöglichen.

Sie sprechen von Missbrauch. Für viele Menschen aus dem Globalen Süden gibt es aber nun einmal keinen anderen Weg in die Schweiz. Ob man die Asylverfahren nun innert 24 oder innert 12 Stunden prüft: Die Leute kommen trotzdem. Bräuchte es nicht alternative Wege, ihnen Arbeit zu bieten?

Genau dafür engagieren wir uns mit Migrationsabkommen. Ich war in Tunesien sehr beeindruckt von unserem Programm, das wir zusammen aufgebaut haben. Damit ermöglichen wir gute Ausbildungen. Die jungen Leute können für ein achtzehnmonatiges Praktikum in die Schweiz kommen; sie können so ihre Fähigkeiten verbessern und sich anschliessend in Tunesien eine Zukunft aufbauen.

Wir tauschen uns oft mit Asylorganisationen und Geflüchteten aus. Diese sehen ganz andere Probleme: die oft mangelhafte Unterbringung, die schlechte medizinische Versorgung und die rechtliche Prekarisierung durch den Status der vorläufigen Aufnahme. Was wollen Sie dagegen tun?

Mir ist wichtig, dass wir die Leute gut behandeln und ihnen die nötige medizinische und pädagogische Unterstützung geben. Ich setze mich für Verbesserungen in diesem Bereich ein. Die Medien interessieren sich aber offensichtlich weniger dafür als für das 24-Stunden-Verfahren.

Können Sie ein Beispiel für diese Verbesserungen nennen?

Wir haben ein Pilotprojekt zur Einschulung von unbegleiteten Minderjährigen gestartet. Die sechzehn- und siebzehnjährigen Asylsuchenden fallen zwischen Stuhl und Bank: Die obligatorische Schulzeit ist vorbei, sie sind aber noch nicht erwachsen und selbstständig. Auch die medizinische Hilfe in den Bundesasylzentren haben wir deutlich verbessert. Da sind wir an einem besseren Punkt als noch vor Monaten, das habe ich auch von den zuständigen Ärzt:innen gehört. Innert drei Tagen bekommt jede:r eine gute medizinische Abklärung, später eine Folgebetreuung. Es ist im Einzelfall aber vielleicht immer noch ungenügend, ich will das nicht schönreden.

Wer die Sommersession verfolgte, bekam den Eindruck, die Schweiz habe kein grösseres Problem als die Asylpolitik. Wie haben Sie die Parlamentsdebatten erlebt?

Ich war überrascht: Da wurden Vorstösse überwiesen, die eine Mehrheit vor zwei Jahren noch abgelehnt hätte. Es wird Druck gemacht, etwa mit der Idee, ein Abkommen mit Eritrea auszuhandeln. Und wenn das nicht klappt, sollen wir abgewiesene Asylsuchende in einen Drittstaat ausschaffen. Nun gut, wir nehmen das auf und prüfen es. Am Schluss entscheidet das Parlament. Noch etwas ist mir aufgefallen: Sie sagten vorher, ich hätte mir Applaus von der SVP geholt. Davon habe ich nichts gespürt. Die Schlange vorm Rednerpult, wenn wir diese Themen behandelt haben, ging vom Parlamentssaal fast bis zur Aare runter. Man hat mich da also nicht geschont.

Ist diese intensive Bewirtschaftung der Asylpolitik auch Folge des Rechtsrucks bei den Wahlen 2023? Die Vorschläge kommen ja auch von der FDP und aus der Mitte.

Die SVP profitiert davon, Zugewanderte für alles verantwortlich zu machen. Die FDP und die Mitte wissen nicht, wie sie dem begegnen sollen. So weit die politische Ausgangslage.

Von ausserhalb der Bundeshauskuppel scheint es, das Parlament habe in der Asylpolitik jeglichen Realitätssinn verloren. Der Ständerat will in der Ukraine sichere Gebiete definieren, in die man Leute zurückschicken kann.

Alle europäischen Länder sind der Auffassung, dass eine Definition von sicheren Herkunftsgebieten nicht möglich ist. Die Frontlinien wechseln dauernd, es ist enorm schwierig, zwischen Betroffenen und Nichtbetroffenen zu unterscheiden. Ich werde das im Nationalrat aufzeigen. Aber wenn sich beide Räte einig sind, müssen wir den Auftrag trotzdem umsetzen.

Eine der Herausforderungen beim Schutzstatus S für Ukrainer:innen ist die Arbeitsmarktintegration. Sie haben anfangs mit dem «österreichischen Modell» geliebäugelt: Wer einen Job hat, erhält eine definitive Aufenthaltsbewilligung.

Derzeit warten wir auf den Bericht einer Expert:innenkommission rund um den ehemaligen Aargauer Regierungsrat Urs Hofmann. Sie macht zum Umgang mit dem Status S und der vorläufigen Aufnahme F eine Auslegeordnung und prüft auch, ob man beides zusammenführen kann. Auf Basis des Berichts wird sich der Bundesrat im Herbst äussern. Mir ist wichtig, dass es einfacher wird, in der Schweiz zu arbeiten. Das ist eine Win-win-win-Situation: für die Kantone, die weniger Sozialhilfe bezahlen müssen, für die Arbeitgeber:innen – und für die Leute selbst.

Eine der grössten anstehenden asylpolitischen Veränderungen ist die Einführung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Geas). Wie wird sich die Schweiz daran beteiligen?

Von den zehn Rechtsakten müssen wir als assoziierter Staat vier anwenden, etwa das Screening von Asylsuchenden oder die revidierte Dublin-Verordnung. Im August werde ich dem Bundesrat entsprechende Anpassungsvorschläge unterbreiten. Das wird unsere Asylpolitik nicht grundlegend verändern. Ich gehe also davon aus, dass die Änderungen nicht umstritten sein werden. Die umstrittene Frage wird sein, ob sich die Schweiz dem Solidaritätsmechanismus freiwillig anschliesst.

Dieser Mechanismus sieht eine ausgewogene Verteilung der Asylsuchenden zwischen den europäischen Staaten vor. Plädieren Sie dafür, dass die Schweiz mitmacht?

Schon meine Vorgängerinnen haben immer betont, dass der Solidaritätsmechanismus ein wichtiger Bestandteil der europäischen Asylpolitik sein müsse. Deshalb haben wir uns auch in den letzten Jahren solidarisch gezeigt, etwa indem wir Zentren für unbegleitete Minderjährige in Italien oder Griechenland finanziert haben. Diese Solidarität war also schon bisher Teil unserer Politik.

Wie stehen die Chancen, dass Sie Ihre rechtsbürgerlichen Kolleg:innen im Gremium überzeugen können?

Der grosse Mehrwert des Geas liegt darin, dass man die Verantwortung teilt. Dazu gehört ganz wesentlich die Solidarität.

Statt von einem Mehrwert der EU-Reform zu sprechen, muss man doch vor allem den Abbau der Menschenrechte benennen: An den europäischen Aussengrenzen werden Haftlager geschaffen, auch für flüchtende Kinder. Wie beurteilen Sie, dass sich die Schweiz zumindest indirekt an derartigen Haftlagern beteiligt?

Den Begriff «Haftlager» haben jetzt Sie gebraucht …

Die Menschen dürfen die Zentren nicht verlassen. Wie soll man eine solche Situation sonst bezeichnen?

Sie dürfen sie verlassen, einfach nicht in Richtung Europa. Zum Pakt gehört das Bekenntnis zur Flüchtlings- und Kinderrechtskonvention. Diese Werte müssen auch in den neuen Verfahrenszentren eingehalten werden. Je solidarischer wir uns in diesem System zeigen, desto mehr können wir uns auch dafür einsetzen, dass die Menschenrechte gewahrt werden. Pushbacks sind auf jeden Fall nicht die Antwort – Frontex hat vielmehr die Aufgabe, sie zu bekämpfen. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass dieses Versprechen eingelöst wird.

Themenwechsel: Am Samstag spielt die Fussballnationalmannschaft im Viertelfinal der Europameisterschaft, sie ist ein Abbild der vielfältigen Schweiz im Jahr 2024. In der Politik aber sind Personen mit Migrationsgeschichte stark untervertreten. Das hat vor allem mit der restriktiven Einbürgerungspraxis zu tun. Sehen Sie da Handlungsbedarf?

Die Einbürgerung ist ein enorm wichtiger Schritt, um die Menschen in unsere Gesellschaft mitzunehmen. Wenn wir dort Verbesserungen machen können, die auch mehrheitsfähig sind, dann ist das sehr in meinem Sinne. Die Demokratie-Initiative gibt jetzt eine Möglichkeit, sich wieder mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Die Initiative, für die derzeit Unterschriften gesammelt werden, sieht ein Recht auf Einbürgerung nach fünf Jahren Aufenthalt in der Schweiz vor.

Ich glaube, dieser Schritt ist noch ein bisschen gross. Das ist eine starke Verkürzung. Aber vielleicht gibt es ja Möglichkeiten, dem entgegenzukommen.

Ein Problem ist insbesondere, dass die Einbürgerung zunehmend zur Klassenfrage wird: Das hat auch eine Studie der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus kürzlich konstatiert. Wie beurteilen Sie das?

Das finde ich sehr bedauerlich. Menschen mit einem weniger grossen Bildungsrucksack sind für unsere Gesellschaft genauso wertvoll. Dass eine Einbürgerung inzwischen vor allem etwas für reiche Menschen ist, muss uns zu denken geben.

Sie haben jetzt oft betont, sich an die Vorgaben des Parlaments zu halten. Was halten Sie als Justizminister eigentlich von der Aufforderung, das Klimaurteil aus Strassburg zu ignorieren?

Mir ist die Gewaltentrennung sehr wichtig und auch, dass die Schweiz nicht zu den Ländern gehört, die sich über internationale Gerichtsentscheide hinwegsetzen. Der Bundesrat wird im August zum Urteil Stellung nehmen und auch das Votum des Parlaments berücksichtigen, auch wenn nicht ganz einfach zu lesen ist, was es mit der Erklärung wollte. Ich nehme das Urteil jedenfalls sehr ernst – und werde das auch weiterhin tun.