Widerstand in Jordanien: Ein bisschen demonstrieren ist erlaubt
Der Krieg in Gaza hat auch in Jordanien die Stimmung verschärft. Während viele Junge gegen die Gewalt im Nachbarland protestieren, bleibt die Regierung ein wichtiger Verbündeter Israels. Ein Besuch in aufgeheizten Zeiten.
In den letzten Wochen seien mehrere ihrer Freund:innen festgenommen worden, sagt eine Frau mit blondierten Locken und einer Kufija um die Schultern. Sie eilt in Richtung Kaluti-Moschee, es ist ein Mittwochabend im Mai in Amman, der Hauptstadt Jordaniens. Metallzäune begrenzen den Gehweg. Dutzende Polizisten stehen in Reih und Glied, als sicherten sie einen Staatsbesuch. Auf dem Platz vor der Moschee: höchstens 200 Demonstrant:innen mit Schildern und palästinensischen Flaggen.
Die Beamten sind freundlich an diesem Tag. Kinder seien nicht erlaubt auf dem Platz, weisen sie an, Familien sollen sich hinter die nächste Ecke zurückziehen. Noch ein paar Wochen zuvor war die Polizei mit Tränengas gegen Protestierende vorgegangen, die teilweise zu Tausenden gegen den Krieg in Gaza auf die Strasse zogen. Jetzt versucht sie, die Demonstrationen mit Vorschriften kleinzukriegen.
Immer wieder sind Demonstrant:innen verhaftet worden. Die letzten zehn Tage ist die Frau mit den blonden Locken, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, deswegen zu Hause geblieben. Davor aber habe sie jeden Tag protestiert, über ein halbes Jahr lang. «Wir wollen den Menschen in Gaza zeigen, dass wir ihnen beistehen», sagt sie. Von der jordanischen Regierung fordert sie, sämtliche diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel abzubrechen. Zwar habe die Regierung viel unternommen, Hilfsgüter über Gaza abgeworfen etwa. Doch das reiche nicht: «Wir sind gegen die Normalisierung ganz allgemein.»
Der Krieg zwischen Israel und der Hamas hat Schockwellen durch die ganze Region geschickt. Ein Grossteil der Menschen verfolgten täglich in den Nachrichten, was im Nachbarland geschah, und berichteten von einer hohen psychischen Belastung durch den Krieg. Das ergab im Januar eine Umfrage des Arab Center for Research and Policy Studies in sechzehn arabischen Ländern, darunter Jordanien.
Auch politisch hat sich die Stimmung in der Bevölkerung verschärft: Eine Mehrheit der Befragten ist überzeugt, dass ein Frieden mit Israel unmöglich sei. Normalisierte Beziehungen mit Israel, die schon vor dem Hamas-Massaker am 7. Oktober in den meisten Ländern der Region wenig Unterstützung genossen, werden angesichts der israelischen Gewalt im Gazastreifen in vielen Ländern nun fast vollständig abgelehnt – in Jordanien lag die Zustimmung dafür bei nur noch vier Prozent. Den Angriff der Hamas sieht eine Mehrheit indes als «legitimen Widerstand gegen die israelische Besetzung», die Sympathien für westliche Staaten sind laut der Umfrage auf einen Tiefpunkt gesunken. Kaum jemand glaubt, dass es den USA mit ihrem Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung ernst ist.
«Eine ganze Generation wurde durch den Krieg politisiert und verliert gerade das Vertrauen ins Völkerrecht», sagt die jordanische Analystin Katrina Sammour. «In den arabischen Gesellschaften haben viele das Gefühl, dass das internationale Recht die Menschen nicht schütze. Dass ihre Leben weniger wert seien.»
Geld für den Wiederaufbau
Die Stuhlreihen auf der Dachterrasse des Kulturzentrums Dschadal sind voll besetzt, im Hintergrund taucht die Abendsonne die weisse Silhouette der Häuser auf dem gegenüberliegenden Hügel in ein warmes Licht. Auf der Bühne stimmen die vier Musiker ein langsames Lied an, «Umm al-Shahid» (Mutter des Märtyrers). Der Abend ist Teil der Initiative Sumud, die Spenden für Gaza sammelt.
Die Initiative ist ein guter Indikator dafür, wie der Krieg in Gaza viele junge Menschen in Jordanien derzeit politisiert. Sie wurde vergangenen Herbst, ein paar Wochen nach Kriegsausbruch, von Aktivist:innen gegründet. «Wir wollten etwas machen, das langfristig wirkt», sagt Saad Darwaseh. «Wir wollten eine Bewegung gründen, die die Leute in Gaza unterstützt. Viele fühlen zwar mit den Menschen dort. Wir aber wollen bewirken, dass sie vom Mitgefühl ins Handeln kommen.»
Das Ziel von Sumud ist simpel: Geld sammeln, um damit den Wiederaufbau in Gaza zu unterstützen. Von den Spenden ist ein Teil zunächst für die humanitäre Hilfe gegen die Hungersnot gedacht. Der grösste Teil des Geldes allerdings soll zum Einsatz kommen, nachdem in Gaza eine Waffenruhe eingetreten ist. Sumud will damit vorgefertigte Häuser kaufen und nach Gaza bringen, damit die Menschen möglichst schnell in ihre zerstörten Stadtviertel zurückkehren können. «Das Ziel von Israel ist, Gaza in einen Ort zu verwandeln, an dem man nicht mehr leben kann. Dem wollen wir etwas entgegensetzen.»
Bei der Initiative würden sich heute Hunderte Freiwillige engagieren, darunter viele, die in ihren frühen Zwanzigern seien, sagt Darwaseh. «In den letzten dreissig Jahren hat Palästina als politisches Thema an Wichtigkeit verloren. Doch jetzt sehen wir junge Berufstätige oder Studierende, die sich engagieren. Leute, die zuvor politisch nicht aktiv waren.»
Fadi Amireh, der Besitzer des Kulturraums Dschadal, steht an diesem Musikabend ganz hinten auf der Terrasse. Amireh hat schon viele Phasen des gesellschaftlichen Egagenments durchgemacht. Mit Anfang zwanzig bewegte er sich in linken Parteien, die in Jordanien bis heute stramm der antiimperialistischen Perspektive des Kalten Krieges verhaftet sind. 2011 entfremdete er sich jedoch von ihnen.
Damals brachen in vielen arabischen Ländern Massendemonstrationen aus, in Tunesien, Ägypten, Libyen und dem Jemen wurden die langjährigen Diktatoren gestürzt. In Jordaniens Nachbarland Syrien aber brach ein Bürgerkrieg aus. Während die Mehrheit der jordanischen Parteilinken sich auf die Seite des Assad-Regimes schlugen, unterstützte Amireh die Aufstände. Er zog sich aus der Politik zurück und baute das Dschadal auf, um einen Raum für kritisches Denken und die Arbeit an politischen Visionen zu schaffen.
Kritik unerwünscht
Der Raum für politische Diskussionen, die Amireh mit dem Dschadal fördern wollte, war in Jordanien immer eingeschränkt. Er ringt regelmässig mit den Behörden. Dabei geht das haschemitische Königshaus weniger rigide gegen freie Meinungsäusserung vor als die meisten anderen Staaten in der Region. Doch je länger der Krieg in Gaza dauere, desto grösser werde der Druck. Die Regierung wiederum fürchte sich vor einer Ausweitung der Demonstrationen – davor, dass sich die Proteste gegen den Krieg gegen sie selbst wenden könnte. «Die Wut der Leute auf die Regierung steigt, weil sie als Komplizin von Israel angesehen wird», so Amireh.
Die Reaktion der Regierung: mehr Druck. Bereits letzten August verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz gegen Onlinekriminalität. Menschenrechtsorganisationen kritisierten damals, dass es als Vehikel dienen könnte, um öffentliche Kritik massiv einzuschränken. Amireh sagt, das Gesetz sei eine Katastrophe für Menschen wie ihn. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis es in grossem Stil zur Anwendung kam: «Als der Krieg in Gaza ausbrach, wurden Hunderte für kritische Posts angezeigt», berichtet er. Auch Amireh selbst wurde angeklagt.
Das Gericht hat ihn zwar freigesprochen. Trotzdem würde er es wie viele andere kaum noch wagen, sich in den sozialen Medien politisch zu äussern. Eine Reihe von Diskussionsabenden, die er im Dschadal zum Krieg in Gaza geplant hatte, musste Amireh abbrechen. Bei den zwei Veranstaltungen, die tatsächlich stattfanden, habe ihn vorab der Geheimdienst kontaktiert, wollte wissen, wer eingeladen war, worüber sie diskutieren wollten, tauchte dann auch bei den Diskussionen auf. Dabei ging es nicht einmal um die jordanische Regierung, sondern um die Boykottbewegung gegen Israel und die zerstörten Archive in Gaza.
Offiziell geben sich die meisten arabischen Staats- und Regierungschefs entsetzt über das israelische Vorgehen. So schrieb etwa der jordanische Aussenminister auf X, dass die internationale Gemeinschaft darin versage, die Massaker in Gaza zu verhindern. Doch abgesehen von diesen scharfen Worten hat auch Jordanien seinen politischen Kurs gegenüber Israel kaum geändert. Die Regierung kündigte im November zwar an, das geplante Abkommen zum Austausch von Strom und Wasser zunächst nicht zu unterzeichnen. Ansonsten deutet aber nichts darauf hin, dass das Königshaus die bisher geschlossenen Verträge wirklich infrage stellt. Dass Jordanien im April aktiv mithalf, den iranischen Angriff auf Israel abzuwehren, hat diesen Eindruck bei vielen nur noch verstärkt.
Dem gegenüber steht die Repression gegen propalästinensische Aktivist:innen, die – so sehen es viele – so heftig ist wie noch nie. Und das nicht nur in Jordanien. In Ägypten zum Beispiel wurden allein im Oktober rund hundert Aktivist:innen verhaftet, die an propalästinensischen Protesten teilnahmen. Jeder noch so kleine Protest wird aufgelöst. Als eine Gruppe von Frauenrechtler:innen in Kairo Ende April versuchte, der Gleichstellungsorganisation UN Women einen Protestbrief zu übergeben, wurde über ein Dutzend von ihnen festgenommen. In Jordanien seien von Oktober bis April mindestens 1500 Menschen wegen ihres Aktivismus gegen den Krieg in Gaza verhaftet worden, schreibt Amnesty International.
Geöffnete Türen
Palästina, so die Forscherin Dana al-Kurd, war in vielen arabischen Ländern schon immer ein «Tor zum Dissens». Gerade dort, wo freie Meinungsäusserung kaum möglich ist, regierungskritische Proteste aufgelöst und Oppositionelle verhaftet werden, war propalästinensischer Aktivismus häufig der einzig erlaubte. Doch in den Räumen, in denen dieser stattfand, konnten sich auch Türen für andere Themen öffnen, auch für Kritik am eigenen Regime.
Was Fadi Amireh im Dschadal erzählt, ist ein guter Gradmesser dafür, wie nervös die Regierung offenbar gegenüber propalästinensischem Aktivismus in Jordanien geworden ist. Sie fürchtet sich davor, dass es den Protestierenden irgendwann nicht mehr nur um Unterstützung für Gaza geht, sondern dass innenpolitische Forderungen dazukommen könnten, sagt die Analystin Katrina Sammour. «Wenn die Leute bei diesen Protesten anfangen, über Korruption oder Arbeitslosigkeit zu sprechen, wird das zum Problem für die Regierung.»
Dass Sumud wiederum von Einschränkungen derzeit kaum betroffen ist, dürfte daran liegen, dass es sich vordergründig um eine rein humanitäre Initiative handelt. Für den Transport arbeitet Sumud mit dem Jordanischen Haschemitischen Fonds für humanitäre Hilfe zusammen. Der Fonds gehört zum Königshaus – und die Zusammenarbeit ist der einzige Weg für die zivilgesellschaftliche Initiative, überhaupt legal Spenden zu sammeln. Ein weiteres Beispiel dafür, wie engmaschig der zivilgesellschaftliche Raum kontrolliert wird.
Der Graben zwischen einer Mehrheit der Bevölkerung, die Beziehungen zu Israel ablehnt, und der Regierung, die ebendiese 1994 offiziell aufnahm, ist durch den Gazakrieg noch grösser geworden. Das Gleiche gilt auch für andere Staaten, die in den letzten Jahren ihre Beziehungen zu Israel normalisiert haben – etwa Bahrain oder Marokko. «Es gibt kein Vertrauen zwischen den Staaten und ihren Bevölkerungen», sagt Amireh. «Deswegen denken die Regimes, dass ihre Sicherheit von der Beziehung zu den USA und Israel abhängig ist. Aber Stabilität kann es nur geben, wenn sie eine gute Beziehung mit der Bevölkerung haben.»
Das Flüchtlingslager Dschabal al-Hussein liegt mitten in Amman. Es gibt kaum etwas, woran man merken würde, dass man in einem palästinensischen Lager ist. Anders als etwa im Libanon, wo die Strassen von Porträts von Jassir Arafat und Palästinaflaggen gesäumt sind, hängen hier nur jordanische Fahnen. In seinem kleinen Eckladen erzählt Abdullah Osama, der in Wirklichkeit anders heisst, von den Nachrichten, die er von seinen Verwandten in Gaza erhält. «Sie schreiben nur, dass es ihnen gut geht», sagt er. Die meisten in Dschabal al-Hussein sind 1948 während der «Nakba», der Vertreibung der Palästinenser:innen im Zuge der Staatsgründung Israels, dorthin geflohen – sie haben einen jordanischen Pass, doch die palästinensische Identität ist nach wie vor prägend. Wie Osama haben viele dort Verwandte im Gazastreifen.
Der Krieg habe das Leben im Lager stark beeinflusst, Hochzeiten würden nur im kleinen Kreis gefeiert, die Umsätze der Geschäfte gingen zurück, sagt Osama. Anders als viele Aktivist:innen wirkt der ältere Mann nicht wütend. Sondern erschöpft, traurig. Und desillusioniert, was die Frage angeht, ob die Proteste in Jordanien etwas an der Position der Regierung ändern könnten. «Kein einziges arabisches Land hat etwas gegen den Krieg unternommen», sagt er.
Mitarbeit: Suha Ma’ayeh