Nach der Wahl in Grossbritannien: Keir Starmers Sandburgsieg
Der Wahltriumph von Labour ist beeindruckend, aber seicht. Bleibt der erhoffte Aufschwung aus, könnte die extreme Rechte profitieren. Optimistisch stimmen allerdings ein paar linke Erfolge.
Jetzt wird es eng für Labour. So viele neue Abgeordnete sind am vergangenen Donnerstag ins britische Parlament gewählt worden, dass ihnen die notorisch kuscheligen Bänke des Unterhauses wie eine Sardinendose vorkommen müssen. Beeindruckende 412 der insgesamt 650 Sitze in der unteren Kammer hat die Partei ergattert – ein Gewinn von 211 zusätzlichen Mandaten. Dass man den Erdrutschsieg seit Monaten erwartet hatte, ändert nichts daran: Nach vierzehn Jahren in der Opposition ist es für Labour ein Moment des Triumphs.
Manifest der Mässigung
Das Land habe für einen Wandel gestimmt, sagte Neupremier Keir Starmer in seiner ersten Rede. Jetzt gehe es darum, «Grossbritannien wiederaufzubauen». Eine dringende Aufgabe, denn die Bilanz der langen Tory-Jahre fällt ernüchternd aus: Die Wartelisten im Gesundheitsdienst sind auf Rekordlänge angewachsen. Die Kinderarmut hat dramatisch zugenommen, die Zahl der Essensausgaben für Mittellose ist regelrecht explodiert. Der Bau von neuem Wohnraum hinkt der Nachfrage weit hinterher – was unter anderem dazu beigetragen hat, dass Eigenheime für die jüngeren Generationen immer unbezahlbarer geworden sind.
Unterdessen stagnieren die Löhne der durchschnittlich und wenig Verdienenden. Eine Analyse des Londoner Forschungsinstituts Resolution Foundation ergab, dass die einkommensschwächsten Brit:innen rund zwanzig Prozent ärmer sind als vergleichbare Bevölkerungsgruppen in Deutschland und Frankreich. Auch dringend notwendige Investitionen in die Infrastruktur sind ausgeblieben. Spitäler mit Wasserschäden, einsturzgefährdete Schulhäuser, Abwasserbetriebe, die Fäkalien ungefiltert in Badegewässer pumpen – Grossbritannien erscheint wie ein Land am Rand des Zusammenbruchs.
Es steht also viel Arbeit an. Mit einer Parlamentsmehrheit von über 170 Sitzen im Rücken könnte sich Keir Starmer mit Enthusiasmus an den Wiederaufbau machen. Die Sache ist nur: So richtig Lust dazu scheint er nicht zu haben. Das Wahlprogramm von Labour ist ein Manifest der Mässigung. Nur nicht zu viel Wandel und bloss nicht zu schnell – das scheint Starmers Devise zu sein. Es wird wohl eine Finanzspritze für den Gesundheitsdienst geben, eine Förderung des Wohnungsbaus; zudem hat sich die Partei verpflichtet, die Rechte der Lohnabhängigen etwas zu stärken.
Insgesamt sind die Veränderungen allerdings minim – insbesondere was die Fiskalpolitik angeht. Die neue Regierung will etwas mehr Steuern einnehmen, etwa indem sie Schlupflöcher stopft, und die Staatsausgaben geringfügig erhöhen – mehr nicht. Auch hat die Parteiführung durchblicken lassen, dass sie insbesondere auf Privatkapital setzen will, um die Wirtschaft anzukurbeln: Umverteilung wird es nicht geben, Wohlstand soll allein durch Wachstum geschaffen werden. «Labour glaubt an die Weisheit des Privatkapitals und dass es das Wachstum durch finanzpolitische Orthodoxie und Deregulierung entfesseln kann – also genau die Wirtschaftspolitik nicht nur der letzten vierzehn, sondern der vergangenen vierzig Jahre», schrieb dazu kürzlich der Historiker David Edgerton. Sein Fazit: Labour sei mehr oder weniger zur Tory-Partei geworden.
Liebling der Superreichen
Andere sehen es ähnlich. John Caudwell, britischer Mobiltelefon- und Immobilienmilliardär und ehemaliger Tory-Geldgeber, kündigte etwa an, für Labour zu stimmen. «Keir hat die Linke aus der Partei entfernt», sagte er Mitte Juni der BBC. «Er hat Werte und Prinzipien aufgezeigt, die sich mit meinen Ansichten als kommerzieller Kapitalist voll und ganz decken.» Starmers Prinzipien gefallen indes auch dem rechten Boulevardblatt «The Sun», das erstmals seit 2005 ein Votum für Labour empfahl.
Die Superreichen und die Murdoch-Presse mögen sich über die Starmer-Regierung freuen. Die entscheidende Frage ist jedoch: Wird sie mit einer Politik, die den neoliberalen Weg der vergangenen vier Jahrzehnte fortführt, jene grundlegende Erneuerung schaffen, die sich die britische Bevölkerung erhofft? Viele Expert:innen haben da ihre Zweifel. Das unabhängige Institut für Fiskalstudien beispielsweise hat Labours Ausgabenpläne als «winzig, fast schon trivial» bezeichnet; angesichts des desolaten Zustands der öffentlichen Dienste seien sie schlichtweg ungenügend.
Entsprechend birgt diese Politik auch eine grosse Gefahr. Denn wenn sich für die Brit:innen in den kommenden Jahren keine Verbesserung der materiellen Lebensumstände einstellt – bei der Gesundheitsversorgung, den Lebenshaltungskosten, den Sozialdiensten –, wird sich rasch Ernüchterung breitmachen. Frustriert von einer Regierung, die den Wandel versprochen, aber nicht herbeigeführt hat, werden sich wohl viele schnell wieder von Labour abwenden.
Altbewährte Sündenböcke
So beeindruckend wie auf den ersten Blick ist der Wahlsieg von letzter Woche ohnehin nicht. Dass Labour mehr als 400 Sitze gewonnen hat, liegt vor allem an der Unbeliebtheit der Tories – und am veralteten Mehrheitswahlrecht: Schon wenige Stimmen können einen riesigen Unterschied machen.
2019, als Labour unter Parteichef Jeremy Corbyn eine historische Niederlage einsteckte, stimmten 10,3 Millionen Wähler:innen für die Partei; am vergangenen Donnerstag waren es nur 9,7 Millionen (der Stimmenanteil war gerade mal 1,7 Prozentpunkte höher als 2019) –, was sich jedoch in einen riesigen Triumph übersetzt hat. Es sei das «verzerrteste Wahlergebnis» in der britischen Geschichte, schrieb die «Financial Times». Politolog:innen sprechen denn auch von einem «Sandburgsieg», einem «lieblosen Erdrutsch»: Begeisterung für die neue Regierung gibt es kaum, und es wird nicht viel brauchen, um das Labour-Kartenhaus einstürzen zu lassen.
Davon könnte wiederum die Rechte profitieren. Nigel Farages Partei Reform UK hat vierzehn Prozent der Stimmen und fünf Unterhaussitze gewonnen. Zum ersten Mal hat die extreme Rechte eine bedeutende Vertretung im Parlament. In vielen Wahlkreisen gewann Labour nur, weil Reform UK den Tories viele Stimmen weggeschnappt hat. Sollte Starmers Regierung in den kommenden Monaten und Jahren die Hoffnung ihrer Wähler:innen enttäuschen, könnte die Rechte auf ihrem Erfolg von letzter Woche aufbauen. Sie wäre schnell zur Stelle, um mit ihrer altbewährten Sündenbockpolitik Stimmung gegen Migrant:innen zu machen.
Umso wichtiger ist es, dass die Linke dagegen ankämpft – und diesbezüglich gibt die Wahl von letzter Woche Grund zum Optimismus. Inmitten des Starmer-Triumphalismus, der die Medienberichterstattung dominierte, ist fast untergegangen, dass der Linken jenseits von Labour ein durchschlagender Erfolg gelungen ist: Die Grünen haben vier Sitze gewonnen, unter anderem in Bristol Central, wo Ko-Chefin Carla Denyer (siehe WOZ Nr. 25/24) eine wuchtige Mehrheit errungen hat. In vierzig Wahlkreisen sind die Grünen auf dem zweiten Platz gelandet; insgesamt haben fast zwei Millionen Wähler:innen für sie gestimmt. Zudem haben unabhängige linke Kandidat:innen Labour fünf Sitze weggeschnappt – unter anderem Exparteichef Corbyn, den Starmer aus der Partei ausgeschlossen hatte.
Wenn man bedenkt, dass das Zweiparteiensystem darauf ausgerichtet ist, die Chancen von Drittparteien zu schmälern, ist dies ein bemerkenswerter Durchbruch für die Linke. Es ist eine Basis, auf der eine progressive Opposition zur Labour-Regierung aufgebaut werden kann.