Literatur: Im Auge des Wiesels
Draussen unterwegs und hellwach bis zur Ekstase: Die Texte von Annie Dillard gehören zu den schönsten der US-Gegenwartsliteratur.

Eine Frau geht spazieren und sieht zum ersten Mal im Leben ein wildes Wiesel. Beide erschrecken, starren sich an «wie zwei Liebende oder Todfeinde». Die Begegnung fühlt sich an wie ein Schlag: «Er fällte den Wald, entrückte die Felder und leerte den Teich; die Welt verrann ins schwarze Loch der Augen.»
«Leben wie die Wiesel» von Annie Dillard ist nur fünf Buchseiten lang. Aber in diesem kurzen Text wird deutlich, was das Schreiben der 1945 geborenen US-Autorin ausmacht. Sie wirkt ausser sich, in einem Zustand hellwacher Konzentration; sie beobachtet nicht einfach, sondern verschmilzt mit dem Beobachteten – oder sie stürzt ab, verliert den Zugang zur Welt. Und gleichzeitig ist da eine zweite Erzählstimme, die lakonisch kommentiert: «Wenn du und ich uns so ansähen, würden unsere Schädel zerspringen und auf die Schultern fallen. Aber das tun wir nicht. Wir behalten unsere Schädel.»
Was ist hier Natur?
Oft wird Dillard dem «Nature Writing» zugeordnet. Mit ihrem ersten Prosawerk, «Pilger am Tinker Creek», für das sie 1974 gleich den Pulitzerpreis erhielt, orientierte sie sich bewusst an dieser Tradition – das Buch ist inspiriert von Henry David Thoreaus Einsiedlerbericht «Walden» (1854), über den sie auch ihre Masterarbeit schrieb. Judith Schalansky hat «Pilger» (die richtige Übersetzung wäre «Pilgerin») in ihrer «Naturkunden»-Reihe neu herausgebracht, wie auch den Sammelband «Einen Stein zum Sprechen bringen» von 1982, aus dem der Text über das Wiesel stammt. Und doch stellt sich spätestens bei diesem Buch die Frage: Ist das noch Nature Writing?
Der Begriff enthält implizit eine Definition von Natur – und die Annahme, dass es etwas ausserhalb davon gebe. Dillard macht diese Trennung nicht. Sie schreibt über die konkreten Räume, in denen sie lebt, und darin nimmt die «mehr-als-menschliche Welt», wie es der US-Philosoph David Abram nennt, viel Platz ein. Aber was sie da schreibt über dieses wilde, kleine Tier, hat auch viel mit ihr selbst zu tun: «Ich könnte seelenruhig verwildern. Ich könnte zwei Tage im Bau leben, eingerollt, auf Mäusefell gebettet, an Vogelknochen schnuppernd, blinzelnd, leckend, Moschus atmend, das Haar in Graswurzeln verwickelt.»
In «Stein» schreibt Dillard über Naturräume, in denen sie lebt(e), ein Tal in Virginia und den Puget Sound zwischen Vancouver und Seattle, sie erkundet Wälder und Inseln, schwimmt mit Seelöwen vor Galapagos. Aber wie sie die Geschichte der viktorianischen Polarexpeditionen mit einem katholischen Gottesdienst gegenschneidet – das Feierliche und das Lächerliche, das beide verbindet –, das ist kein Nature Writing. Ebenso wenig das existenzielle Erschrecken über eine totale Sonnenfinsternis oder die melancholische Geschichte über ein Wochenende mit einem neunjährigen Mädchen, von dem nicht klar wird, wie es mit der Autorin verbunden ist.
Noch weiter vom Genre entfernt sich «In der Zwischenzeit». Das Buch ist im Original 1999 und Ende letzten Jahres neu auf Deutsch erschienen – eine Meditation über Zeit und Zahlen, Religion und brutale Fakten. Dillard folgt dem französischen Paläontologen und Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin auf seinen Ausgrabungen in Asien, beschreibt eigene Reisen nach Israel und China, besucht die Geburtsabteilung eines Spitals, widmet sich ausführlich jüdischen Mystikern. «In der Zwischenzeit» kreist um die Frage nach dem Wert eines einzelnen menschlichen Lebens, um Mächtige, Gewalt und Totschlag, aber auch um schwer erträgliche Dinge, für die niemand etwas kann, etwa Fehlbildungen bei Kindern: «Du kannst das Chromosom nicht flicken.» Wohl auch wegen «Zwischenzeit» hat Judith Schalansky eine neue Buchreihe begonnen, die «Wildes Wissen» heisst.
Hingabe an die Welt
Dillard betont auf ihrer Website, sie gehöre keiner Religion an. Trotzdem sind ihre Bücher voller religiöser Themen, in «Zwischenzeit» explizit, in «Stein» oft unausgesprochen. Es geht ihr dabei nie um den billigen Trost, mit dem viele Atheist:innen Religion in Verbindung bringen – sie bleibt auch hier, wie in ihren Naturbeschreibungen, unerbittlich direkt: «Viele Male habe ich in christlichen Kirchen den Pfarrer zu Gott sagen hören: ‹Alle deine Taten zeigen deine Weisheit und Liebe.› Jedes Mal hangele ich vergebens nach dem Mut, aufzustehen und zu rufen: ‹Das ist eine Lüge!›» Sie spricht sich vehement gegen die Vorstellung eines allmächtigen Gottes aus, der alles Leiden abschaffen könnte, es aber nicht tut. «Dieser Gott lenkt das Universum nicht, er liegt ihm zugrunde.»
Ein Kritiker soll Dillard «Stand-up-Ekstatikerin» genannt haben, und das passt gut: Die Grenzerfahrungen, die sie beschreibt, sind nicht nur «erhaben», sondern oft auch sehr lustig. Aus ihrem Werk spricht eine bedingungslose Hingabe an die Welt, die auch im Scheitern noch zum Schönsten der US-Gegenwartsliteratur gehört, wie in der Begegnung mit dem Wiesel: «Ich verpasste meine Chance. Ich hätte ihm an die Gurgel gehen sollen. Ich hätte mich auf den weissen Streifen unterm Kinn des Wiesels stürzen und mich festkrallen sollen, mich durch den Schlamm in die Wildrose, in ein anderes Leben zerren lassen sollen.»
Annie Dillards Bücher «Pilger am Tinker Creek», «Einen Stein zum Sprechen bringen» (beide übersetzt von Karen Nölle) und «In der Zwischenzeit» (übersetzt von Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring) sind bei Matthes & Seitz neu auf Deutsch erschienen.