Umgang mit Raubkunst: Ende des Sonderfalls
Brisanter Sammelband: Die Essays und Fallstudien in «Museen in der Verantwortung» zeichnen ein eindringliches Bild vom Schweizer Kunsthandel mit Opfern des Holocaust.
2009 unterschrieb die Schweiz eine folgenreiche Erklärung. Im tschechischen Terezín einigte sie sich mit über vierzig weiteren Staaten darauf, dass «gerechte und faire Lösungen» zu finden seien für Besitzer:innen, die Kunstwerke «unter Zwang» preisgegeben, versteigert oder verkauft hätten. Kunst also, die Verfolgte des NS-Regimes veräussern mussten, um ihr Überleben zu sichern; oft weit unter den marktüblichen Preisen.
Die Schweiz, ihre Museen, Kunsthändler und Sammlerinnen hatten sich die Jahre zuvor (und noch weit über 2009 hinaus) durch die Raubkunstdebatten gehangelt mit einem Begriff, der viele Kunstkäufe, die nach Hitlers Machtübernahme auf Schweizer Boden getätigt worden waren, vermeintlich als unbedenklich auswies: «Fluchtgut» war die Spezialkategorie für den «Sonderfall Schweiz». «Fluchtgut» klang unschuldig, obwohl Entlastung nicht die Absicht der Bergier-Kommission war, die den Begriff 2001 bekannt machte.
Marktförmige Neutralität
Der neue Sammelband «Museen in der Verantwortung» vermisst in fünfzehn ausnahmslos lesenswerten Beiträgen «Positionen im Umgang mit Raubkunst» heute – und stellt sie in Zusammenhang mit der Erklärung von Terezín sowie der vorangegangenen Erklärung von Washington von 1998. Ein geschärftes Augenmerk gilt dem Zusammendenken juristischer und ethischer Fragen. So plädiert etwa der Berner Rechtsanwalt Marcel Brülhart dafür, angesichts der «Systematik der nationalsozialistischen Verfolgung» und der gravierenden Verluste ihrer Opfer «eine konsequente Vermutung zu deren Gunsten» anzuwenden. Explizit auch dann, wenn die Umstände eines Verkaufs in den Kriegswirren nicht restlos geklärt werden können: weil Dokumente fehlen, Namen und Ausweispapiere auf der Flucht geändert, Transaktionen verschleiert wurden.
Dass die Herausgeberin seit April Verantwortliche für den Bereich Raubkunst und Provenienzforschung beim Bund ist, verleiht dem brisanten Band zusätzliches Gewicht. In ihrem Vorwort betont Nikola Doll, wie «auffällig unabgeschlossen» und «politisch aufgeladen» die Frage verfolgungsbedingt entzogener Kunst bis heute sei. Und sie beschreibt einen etwas versteckteren Grund, warum viele Kunstkäufe zwischen 1933 und 1945 nicht zwingend unter Verdacht gestellt wurden.
Wie Doll auch bei ihrer Aufarbeitung des Nachlasses von «Hitlers Kunsthändler» Hildebrand Gurlitt am Kunstmuseum Bern erfuhr: Kunstsammlerinnen und -räuber konnten sich nach dem Krieg oft als Retter der Moderne gebärden, weil sie – meist zu Spottpreisen – aufgekauft hatten, was die Nazis als «entartete Kunst» diffamierten. Damit fand eine Wahrnehmungsverschiebung statt, wie Doll aufzeigt: weg von den verfolgten Menschen, hin zu verfolgter Kunst. Die unterlassene Hilfe angesichts des Massenmords wurde verdrängt, das lukrative Geschäften mit den Opfern galt als Rettungsaktion.
Diese Verschiebung prägt massgeblich auch die Rolle der Schweiz. Verschiedene Fallstudien im Buch zeigen, wie beliebt das vom Krieg «verschonte» Land als Ort von Einlagerungen, Auktionen, Galerieverkäufen war. Auch Kunsthäuser und -museen – etwa in Zürich, Luzern und Basel – dienten als Zwischenlager und Umschlagplätze. Oft liess man die Verzweifelten am Ende auf ihren Bildern sitzen – in der Hoffnung auf noch günstigere oder künstlerisch passendere Angebote. Und man schröpfte die vom NS-Staat Beraubten und Entrechteten mit weiteren Abgaben.
Die Schweizer Grenzen waren weit offen für Kunst- und andere Vermögenswerte, während man geflüchtete Jüdinnen und Juden abwies, wie die Historikerin Stefanie Mahrer in ihrem eindringlichen Essay ausführt. Eine Restitution könne die «unwiderrufbar zerstörte Lebenswelt» nicht wiederherstellen, sei aber eine «Anerkennung des Verlusts als Unrecht».
In den Beiträgen scheinen durchaus auch Nuancen und anständiges Verhalten Einzelner auf. Insgesamt dominiert aber der Eindruck von Eigennutz und Kälte gegenüber verfolgten, enteigneten und entrechteten Menschen. Unter dem Mantel einer marktförmigen Neutralität schlugen die Schweiz und ihre Händler:innen regelmässig aus Unrecht Profit, auch auf dem ab 1933 boomenden Kunstmarkt. Es regierte eine Bankiersmentalität – und eine Weigerung, sich später den eigenen Verstrickungen zu stellen. Oder wie der Historiker Benno Nietzel schreibt: Bei der Suche nach Kunstwerken problematischer Herkunft sei man nach 1945 «Hinweisen der Schweizerischen Bankiervereinigung» gefolgt, «dass eine entsprechende Übersicht unmöglich zu gewinnen sei».
Zu lange Untätigkeit
Der Name des Waffenhändlers und Kunstsammlers Emil Bührle fällt im Band wiederholt: Er ist eine Chiffre für exzessive Kunstkäufe in den Kriegsjahren und danach – und für fehlendes Unrechtsbewusstsein. Zwei Wochen bevor Raphael Gross seine unabhängige Untersuchung der Provenienz von Bührles Gemälden im Kunsthaus Zürich vorlegen wird, hat die Stiftung Bührle nun plötzlich verkündet, für fünf Bilder würden «Lösungen mit den Rechtsnachfolgern ehemaliger Besitzer gesucht». Der Band «Museen in der Verantwortung» liefert nach Erich Kellers «Das kontaminierte Museum» ein weiteres klares Argumentarium, warum dieser Schritt überfällig ist – und warum auch die Stadt und das Kunsthaus Zürich schon vor vielen Jahren hätten aktiv werden müssen.