Eskalation im Nahen Osten: Zerbrochene Illusionen
Wegen anhaltender Angriffe aus dem Libanon sind viele Städte im Norden Israels evakuiert worden. Auch Familie Cohen aus Schlomi musste ihre Heimat verlassen.
Elf Kilometer trennen Moran Cohen derzeit von ihrem Zuhause. Vom Balkon der Wohnung in Naharija, wo sie mit ihrer Familie temporär untergekommen ist, könnte man ihre Heimatstadt Schlomi eigentlich sehen – würden nicht Wohnblöcke die Sicht in den Norden versperren. Frei ist der Blick indes Richtung Nordosten: auf die Grenze zum Nachbarland Libanon und die vielen Dörfer und Kibbuzim, die im Landstrich davor seit dem vergangenen Oktober leer stehen. Wenn Cohen auf dem Balkon die Wäsche aufhängt, blickt sie auf die Geisterdörfer am Horizont – und wenn die Raketen einschlagen auf die über ihnen aufsteigenden Rauchschwaden.
Die vielen Raketen und Antipanzergeschosse, die die vom Iran unterstützte Hisbollah-Miliz in Richtung Israel schiesst, haben die Bewohner:innen der Region um Schlomi gezwungen, sich weiter südlich in Sicherheit zu bringen, in Hotels oder angemieteten Wohnungen in Städten wie Haifa oder Naharija – so wie Familie Cohen. Insgesamt wurden mindestens 60 000 Menschen aus dem Norden Israels evakuiert.
Schlomi ist derzeit Kriegsgebiet. Der nördlichste Punkt der Stadt – das Neubaugebiet, in dem das Ehepaar Cohen vor zwei Jahren ein Haus gekauft hat – liegt nur etwa 300 Meter von der Grenze entfernt. Zwischen dem Luftalarm, den die Raketen auslösen, und ihrem theoretischen Einschlag bleiben nur wenige Sekunden. Vor ein paar Tagen, erzählt Cohen, habe sie ihr Haus besucht, um endlich die verbliebenen Pflanzen zu holen. Viele sind eingegangen, seit die Familie das Haus im Oktober verlassen hat.
Trügerische Ruhe
Die Wohnung, in der die Familie Cohen derzeit lebt, ist hübsch: Neubau, hell, geräumig, mit einem grossen Schutzraum, der zugleich das Kinderzimmer der ältesten Tochter ist. Nur selten öffnet sie die dicke Metalltür, die das Fenster des Zimmers nach aussen abschirmt – aus Sorge, dass genau in diesem Moment der Alarm ertönt. «Ein Zuhause ist es nicht», sagt Moran Cohen. Wie wohl alle Evakuierten fragt sie sich: Wann können wir endlich zurückkehren? Und was müsste dafür passieren?
Gegen die Angriffe der Hisbollah schützt die Bewohner:innen Israels zwar das Abwehrsystem Iron Dome, das die meisten Raketen abfängt. Doch gegen die Antipanzergeschosse gibt es kein Schutzsystem. Immerhin, sagt Cohen, reichten sie nicht bis nach Naharija. Aber auch wenn kein Alarm ertönt, erinnern die Geräusche in der Stadt an die Nähe zur Grenze: das ohrenbetäubende Donnern der Kampfflugzeuge, die Richtung Libanon fliegen, der dumpfe Knall, wenn der Iron Dome in der Umgebung eine feindliche Rakete abfängt.
Wie im gesamten Norden Israels funktionieren GPS-Systeme in Naharija nicht. Google Maps etwa zeigt als Standort meist den Flughafen der libanesischen Hauptstadt Beirut an. Israel stört das System, um es GPS-navigierten Raketen und Drohnen der Hisbollah zu erschweren, ihre Ziele zu erreichen. Mittlerweile hat die Miliz allerdings gelernt, die Schutzsysteme zu umgehen: Eine ihrer Drohnen flog vor kurzem bis nach Haifa, etwa 45 Kilometer von der Grenze entfernt, und nahm dort Videos des Hafens und weiterer möglicher Infrastrukturziele auf.
Eine Bodenoffensive im Südlibanon werde immer wahrscheinlicher, sagen viele Militäranalysten – allerdings wohl nicht bevor der Krieg in Gaza in eine «weniger personalintensive Phase» übergehe. An beiden Fronten mit Bodentruppen zu kämpfen, wäre wohl zu viel, die Zahl der Soldat:innen ist begrenzt: Gleich zu Beginn des Krieges hatte das Militär über 350 000 Reservist:innen aufgeboten, die nur für eine begrenzte Zeit in den Einsatz dürfen. Dennoch bereitet die Armee die für eine Invasion vorgesehenen Bataillone auf einen Krieg vor. Und auch die Rhetorik der Regierung bleibt auf Eskalation gebürstet. Ein Spiel auf Zeit, sagen einige Analysten, um die Hisbollah von einer weiteren Eskalation abzuhalten – zumindest, bis das Militär für einen Bodeneinsatz bereit ist.
Um eine solche Offensive zu vermeiden, führen vor allem die USA vermehrt Gespräche mit Israel und dem Libanon – und warnen die Hisbollah: Falls es zum Krieg komme, werde man Israel nicht um Zurückhaltung bitten. «Niemand will diesen Kampf», sagt Moran Cohens Ehemann Idan, «wir nicht und auch die Menschen im Libanon nicht – ausser dem Iran und der Hisbollah.» Statt eines Krieges werde es ein Abkommen zwischen den beiden Parteien geben, glaubt er.
Der letzte heisse Krieg, den die Hisbollah und Israel 2006 führten, endete nach einem Monat mit der Resolution 1701 des Uno-Sicherheitsrats. Diese sah vor, dass Israel seine Bodentruppen aus dem Südlibanon zurückruft, die Hisbollah ihre Waffen abgibt und sich hinter den Litani zurückzieht. Der Fluss verläuft durch den Südlibanon, etwa dreissig Kilometer von der Grenze entfernt. Vor allem die Hisbollah hielt sich nie an das Abkommen – und rückte bis auf Sichtweite an die Grenze heran. «Wir hatten siebzehn Jahre lang Ruhe», sagt Moran Cohen. Eine trügerische Ruhe, betont ihr Ehemann.
So sehe wohl auch die Zukunft aus, ist er überzeugt: Ein Abkommen werde die Raketen- und Drohnenangriffe aus dem Libanon zwischenzeitlich beenden, während die Hisbollah weiter ihre Kapazitäten ausbaue und langsam wieder an die Grenze heranrücke – «ein Zustand wie am 6. Oktober 2023», sagt er. In ein paar Jahren stehe dann wieder der nächste Krieg mit der Hisbollah ins Haus. «Wenn ich wüsste, was ich heute weiss, hätte ich unser Haus in Schlomi nie gekauft.»
Zerrissene Familien
Schadi Challul hat gerade erst mit dem Bau seines neuen Hauses begonnen. Wie Familie Cohen ebenfalls in einem Neubaugebiet, dessen Bewohner:innen auf die Grenze zum Libanon blicken. Hier liegt sie immerhin rund sieben Kilometer entfernt. Trotzdem fliegen auf das Dorf Gisch – auf Hebräisch heisst es Gusch Halav – immer wieder Raketen. Eine Evakuierungsanordnung, sagt Challul, gebe es bisher nicht, doch vor zwei Wochen habe er den Notfallplan für eine mögliche Evakuierung erhalten. In Gisch leben vor allem arabische Israelis, die Mehrheit von ihnen sind maronitische Christ:innen, so wie Challul. Das Dorf liegt auf einem Hügel, auf dessen Gipfel eine Kirche thront. In der Dämmerung ist ihr rot beleuchtetes Kreuz schon von weitem zu erkennen – auch aus dem Libanon.
Wie grosse Teile der maronitischen Minderheit identifiziert sich auch Challul nicht als Palästinenser oder Araber, sondern als Aramäer – und als patriotischer Bürger des Staates Israel. Seine Familie stamme eigentlich aus Kfar Bar’am, einem kleinen Dorf weiter nördlich, direkt an der Grenze. Im arabisch-israelischen Krieg 1948 wurden die arabischsprachigen Bewohner:innen von israelischen Streitkräften aus Kfar Bar’am vertrieben, das Dorf später zerstört. Viele von ihnen siedelten schliesslich in den Libanon oder nach Gisch über.
Viele maronitische Familien aus Kfar Bar’am, erzählt Challul, hätten ihre Wurzeln in den christlich geprägten Bergen im Zentrallibanon – dem Kernland der Maronit:innen – oder in den vereinzelten christlichen Dörfern im Südlibanon. Ab 1985 hielt das israelische Militär den Süden des Nachbarlands fünfzehn Jahre lang besetzt, der Kontakt zwischen den Maronit:innen im Südlibanon und jenen in Nordisrael blieb so möglich. Bei Jugendaustauschprogrammen habe sich so manches israelisch-libanesische Paar gefunden, von denen einige heute in Gisch lebten. Doch mit dem Abzug Israels aus dem Libanon im Jahr 2000 schloss sich die Grenze: Familien wurden zerrissen – und stehen seither zumindest formal auf unterschiedlichen Seiten des Nahostkonflikts. Denn einen echten Friedensvertrag haben die beiden Staaten bis heute nicht umgesetzt.
Wie um die Bewohner:innen von Gisch sorgt sich Challul auch um die christlichen Dörfer im Südlibanon. Im März versuchte die Hisbollah, ein Raketenabschussgerät in der Mitte des Ortes Rmeish, auf libanesischer Seite direkt an der Grenze gelegen, zu installieren. Ein Bewohner des Dorfes habe die Anhänger der Miliz bemerkt und die Glocke der Kirche geläutet, um Verstärkung zu rufen. Gemeinsam sei es den Dorfbewohner:innen gelungen, die Hisbollah am Ausbau ihrer Infrastruktur zu hindern. Die Bewohner:innen von Rmeish, schrieb der «Economist» über den Vorfall, seien auf sich allein gestellt. Sie patrouillierten nun um das Dorf und hätten Checkpoints an den Einfahrten bemannt, erzählt Challul. Gegen die Hisbollah seien sie letztlich machtlos.
Pläne für die Zukunft
Die Hisbollah hat ihre Kapazitäten über die Jahre deutlich ausgebaut: 2006 hatte die Miliz etwa 15 000 Raketen, während des gesamten einmonatigen Krieges schoss sie etwa 4000 davon auf Israel ab. Heute verfügt sie über rund 150 000 Raketen mit teils Hunderten Kilometern Reichweite und kann es sich leisten, an einem Tag über 200 abzufeuern. Ein ausgewachsener Krieg, sagt Challul, hätte auch für Israel dramatische Folgen.
Trotzdem betont er: Eine diplomatische Lösung werde nicht funktionieren. Das hätten die vergangenen Jahre gezeigt. Wie auch Idan Cohen ist er sich sicher: Jeder Frieden sei trügerisch – eine zur Aufrüstung genutzte Pause vor dem nächsten Kampf. Und ein Krieg deshalb unausweichlich.
Verlassen sie das Haus, klemmen sich Idan Cohen und auch Schadi Challul eine Pistole an den Hosenbund. «Ich will kein Held sein», sagt Cohen, «aber im Fall der Fälle will ich meine Familie beschützen können.» – «Man weiss ja nie», sagt Challul. Die Illusion von Sicherheit, in der Familie Cohen ihr Haus in Schlomi kaufte, ist zerbrochen. Vor allem Idan Cohen möchte nicht zurückkehren. Sein Plan: das Haus vermieten, bis sich die meisten Menschen in Israel erneut der Illusion hingeben. Und es dann, wenn es dadurch wieder an Wert gewonnen habe, zu verkaufen.
Challul hat den Bau seines Hauses vorübergehend unterbrochen. Es ist ein Rohbau aus blossem Beton, zwei Stockwerke mit grossen Aussparungen in den Mauern, in die einmal Panoramafenster eingesetzt werden sollen. Irgendwann wolle er es fertig bauen, sagt er. Wenn wieder mehr Ruhe eingekehrt ist – sei es durch einen Krieg oder ein Abkommen.