«Snowpiercer»: Gibt es ein richtiges Leben im falschen Zug?
Klassenkampf im Express durch die Eiswüste: In seinem Film «Snowpiercer» packt der koreanische Regisseur Bong Joon Ho den letzten Rest der Menschheit in einen Schnellzug. Der gesellschaftspolitisch schärfste Blockbuster seit «The Matrix».
Auf halbem Weg zur Revolution gibts Sushi für die Aufständischen. Da pausieren sie an der Bar im schallgedämpften Speisewagen, der bärtige Rebellenführer und seine Getreuen aus der Unterschicht. Der Fisch ist frisch, die Aussicht gespenstisch: Draussen vor dem Fenster ziehen die vereisten Gerippe der Zivilisation vorüber, Ruinen in einer erfrorenen Welt. Nach einem missglückten Versuch, die Klimaerwärmung zu korrigieren, ist der Planet erkaltet und unbewohnbar geworden. Nur dieser rasende Zug dreht noch seine Runden durch die globale Eiswüste: einst der Bubentraum eines schwerreichen Ingenieurs, der dafür noch belächelt wurde, jetzt das letzte Refugium für den kleinen Rest der Menschheit, der nicht den Kältetod gestorben ist.
Kammerspiel im Schnellzug
Also schon wieder eine Arche im Kino, aber diese hier rollt auf Schienen, und Russell Crowe ist zum Glück auch nicht an Bord. Während man sich in Hollywood auf die archaische Wucht des Alten Testaments besinnt und dem Stammvater Noah als Retter der Arten ein reaktionäres Denkmal setzt, rast der koreanische Regisseur Bong Joon Ho («The Host») mit seiner ratternden Arche in die entgegengesetzte Richtung, der Zukunft entgegen, durch den Schnee von morgen. «Snowpiercer» wird dieser Zug genannt, weil er sich unaufhaltsam wie ein Pfeil durch Schnee und Eis bohrt, und so heisst auch der Film, der aus der finstersten Armut ins gleissende Licht einer neuen Zeit führt.
Dabei ist er eigentlich ein Unding, dieser Film. Die Vorlage: eine französische Graphic Novel von 1984. Die Verfilmung: eine koreanische Vierzig-Millionen-Dollar-Produktion unter der Leitung von Park Chan Wook («Oldboy») und seinem Kollegen Bong Joon Ho. Das Ensemble: ein internationaler Cast mit Stars aus Hollywood, England und Korea. Drehort: ein Studio in Prag. Klingt nach globalisiertem Machwerk aus der Retorte. Aber «Snowpiercer» ist nichts dergleichen. Sondern eine politische Allegorie für die Occupy-Generation, ein Actionfilm als progressives Kammerspiel, ein dystopischer Thriller über einen Klassenkampf im Hochgeschwindigkeitszug. Zwar schwankt dieser Zug öfters gefährlich zwischen Satire und Bombast, aber was wir da sehen, ist trotzdem der gesellschaftspolitisch schärfste Blockbuster seit «The Matrix».
Diese Arche nämlich ist streng nach sozialen Schichten segregiert: An der Spitze des Zuges ergeht sich die herrschende Klasse in Dekadenz und Luxus, ganz hinten in der Finsternis haust das Lumpenproletariat, abgeschottet hinter Sicherheitsschleusen und kontrolliert von einer bewaffneten Miliz. Gelegentlich bemüht sich eine autoritäre Chefbeamtin im Pelz bis ganz nach hinten, um die armen Leute in die Schranken zu weisen, wenn sie mal wieder aufbegehren. Eine böse Tante des Regimes, streng gescheitelt, mit dicker Brille und schlechten Zähnen: Das ist Tilda Swinton als Karikatur einer eisernen Lady, die das niedere Volk belehrt wie kleine Kinder. So predigt sie die natürliche Ordnung der Dinge: Der Hut gehöre auf den Kopf, der Schuh an die Füsse. «Ich bin ein Hut», sagt sie, «ihr seid ein Schuh.» Jedes Ding gehört an seinen Platz, auf dass keine Anarchie ausbricht, die den Zug aus den Gleisen heben würde.
Vom Glibberprotein zur Sushibar
Aber dann erheben sich die Schuhe und machen sich auf zum Kopf, wo sie die Macht über den Zug an sich reissen wollen. Die Aufständischen erobern den Gefängniswagen, wo sie einen vernebelten Sicherheitsexperten (Song Kang Ho) samt seiner Tochter (Ko Ah Sung) rekrutieren, die dort in Schubfächern aufgebahrt liegen. Sie passieren die Küche und sehen, wie dort die glibberigen schwarzen Proteinbarren hergestellt werden, die sie als tägliche Essensration zugeteilt bekommen. Schlachten werden geschlagen, Blut wird vergossen, und je weiter die revolutionäre Schar kommt, desto bizarrer und bunter werden die Milieus in diesem Zug. Da ist das idyllische Gewächshaus, wo die schönste Hors-sol-Natur blüht, da ist die Sushibar mit apokalyptischer Aussicht, da ist das farbenfrohe Schulzimmer, wo die Kinder lernen, den Schöpfer und Steuermann der heiligen Lokomotive zu preisen. So kämpft sich diese schrumpfende Guerilla nach vorn, wie durch die Levels eines Computerspiels, das immer fantastischere Formen annimmt.
Mit Bart, aber ohne Charisma
Und wie damals in «The Matrix» ist auch hier der designierte Held die fadeste Figur von allen. Curtis heisst dieser Heilsbringer, der den Aufstand der Geknechteten anführt, und gespielt wird er von Chris Evans. Der ist sonst hauptberuflich als Superheld in Hollywood unterwegs, wo er als Captain America zuverlässig die Welt namens Amerika rettet, stets tadellos rasiert und mit imperialistischem Sternenbanner auf der Brust. Als Revolutionsführer in «Snowpiercer» schaut er jetzt umso grimmiger, aber Charisma kann man sich halt nicht einfach wie einen Bart wachsen lassen.
Leider wahr: Dieser Held ist ein Langweiler. Das ist zwar schlecht für die Identifikation, zeugt aber von der politischen Intelligenz dieses Films, der den Traum von einer gerechteren Welt nicht leichtfertig an einen messianischen Vorkämpfer delegiert haben will. Das wusste ja schon Friedrich Nietzsche: dass eine Gesellschaft, die ihren Heiland kennt, unfähig ist zur Revolution. Und was ist so ein Anführer überhaupt wert, der immer nur davon redet, die Kontrolle über den Zug zu übernehmen, ohne das System selbst infrage zu stellen, diesen geheiligten Motor, der läuft und läuft und läuft? Denn das ist ja die offizielle Doktrin, wie sie vom Kopf des Zuges verbreitet wird: Es gibt keine Alternative. Da passt es, dass der Schöpfer dieser Maschine von Ed Harris gespielt wird, der ja schon in «The Truman Show» wie ein Gottvater im Kontrollraum über seine hermetische Welt wachte.
Es gibt keine Alternative? Alles eine Frage der Fantasie und des klaren Blicks. Und Drogen, das weiss der koreanische Sicherheitsexperte, können dabei helfen. Kronole heisst die Ware, mit der er sich von den Aufständischen für seine Dienste bezahlen lässt: Das ist Industriemüll in Form von gummiartigen Knollen, die high machen, wenn man an ihnen schnüffelt. Vielleicht hätte der US-Produzent Harvey Weinstein zur Entspannung auch mal daran riechen sollen. Der Chef der Weinstein Company hat den Start von «Snowpiercer» in der englischsprachigen Welt fast ein Jahr lang blockiert, weil er den Film um 25 Minuten kürzen und eine erklärende Stimme aus dem Off darüberlegen wollte. Regisseur Bong blieb stur und erklärte seine Version für nicht verhandelbar.
Der neuen Zeit entgegen
Ein rasender Zug, der sich durch totes Land frisst, an Bord eine Klassengesellschaft, die nicht ans Aussteigen denkt, weil es den einen zu gut geht und die anderen den Tod fürchten, der draussen in der Kälte wartet: Mag sein, man hat schon weniger plakative Parabeln über den Turbokapitalismus gesehen – aber lange keine mehr, die so reich an Ideen und visuell so aufregend war.
Zwar neigt das Drehbuch von Kelly Masterson ein wenig dazu, uns die ganze symbolische Dimension in den Dialogen oft noch doppelt und dreifach einzubläuen. Aber das Finale ist dann wieder weit weg vom naiven Revolutionsmärchen: Da wird die Mission des Helden als ideologische Fiktion enttarnt – und damit die ganze messianische Dramaturgie des Films brachial ausgebremst.
So erinnert die heimliche Hauptfigur in «Snowpiercer» letztlich an den Engel der Geschichte bei Walter Benjamin: Entgeistert blickt sie zurück auf das, was nach der Katastrophe übrig ist, und dabei treibt sie der Sturm, der aus der Zukunft weht, unaufhaltsam der neuen Zeit entgegen. Es ist vielleicht noch nicht das Paradies. Aber ein neuer Anfang.
Ab 30. April 2014 in den Kinos.
Snowpiercer. Regie: Bong Joon Ho. 2014, Ascot Elite