Putschversuch in Bolivien: Alles nur Theater?
Der Streit zwischen dem Präsidenten und seinem Amtsvorgänger ist für das Land entscheidender als die kurze Erhebung des ehemaligen Armeechefs.
Die Geschichte Boliviens ist nicht eben arm an Putschversuchen. Seit der Unabhängigkeit 1825 gab es im südamerikanischen Land 190 mehr oder weniger gelungene Staatsstreiche. So kurz und so dilettantisch wie jener in der vergangenen Woche war aber noch keiner: Mittwoch letzter Woche um die Mittagszeit rückte General Juan José Zúñiga, der am Tag zuvor von Präsident Luis Arce als Armeechef abgesetzt worden war, mit Panzern, armierten Fahrzeugen und rund 200 Soldaten auf die Plaza Murillo im Zentrum von La Paz vor. Ein Panzer rammte das Eingangstor des Palacio Quemado, Zúñiga und seine Leute stürmten den Regierungssitz. Arce hielt sich zu diesem Zeitpunkt in einem nahen Gebäude bei einem Treffen mit seinem Kabinett auf.
Der Präsident handelte – so sieht es zumindest aus – entschlossen. Er zog seine Daunenjacke an, marschierte hinüber zum Palacio Quemado und stellte den putschenden General. «Ich bin dein Vorgesetzter», soll er laut Ohrenzeug:innen gesagt haben. «Ich befehle dir, deine Soldaten zurückzuziehen. Ich werde keine Gehorsamsverweigerung dulden.» Zúñiga gehorchte. Nach nicht einmal drei Stunden war der Putschversuch vorbei. Bei seiner Verhaftung sagte der gefeuerte Armeechef herbeigeeilten Medienleuten, Arce selbst habe dieses Theater angeordnet, um als starker Mann dazustehen und seine angeschlagene Beliebtheit wieder aufzumöbeln. Der Präsident bezeichnet das als «Lüge».
Vater des Wirtschaftswunders
Tatsächlich ist Arce derzeit in der Bevölkerung alles andere als beliebt. Der linke Ökonom der Bewegung zum Sozialismus (MAS) ist kaum mehr als ein Verwalter des Mangels und will sich im kommenden Jahr für eine zweite Amtszeit wählen lassen. Die Erdgasproduktion, die wichtigste Devisenquelle des Landes, ist seit Jahren rückläufig. Die US-Dollars in der Zentralbank werden knapp, was steigende Preise und ein verringertes Angebot an Importgütern zur Folge hat. Besonders bemerkbar macht sich dies beim staatlich subventionierten Importbenzin. Vor Boliviens Tankstellen bilden sich oft lange Schlangen.
Dabei war Arce der Vater des bolivianischen Wirtschaftswunders zwischen 2006 und 2014. Die damalige Regierung unter dem linken Indigenen Evo Morales, ebenfalls MAS, profitierte in jenen Jahren von hohen Rohstoffpreisen, und Arce als Wirtschaftsminister verwaltete die Einnahmenflut sozial und zugleich vorausschauend. Er steckte das Geld nicht nur in Sozialprogramme, wie das andere linke Regierungen in Lateinamerika in jenen Jahren taten. Er wusste, dass der Boom nicht ewig dauern würde, und legte auch Reserven an. Die Sozialprogramme der Regierung Morales – etwa im Bildungsbereich oder für staatliche Renten – haben deshalb den Einbruch der Rohstoffpreise ab 2014 überlebt. Von der durch die Covid-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise aber hat sich das Land bis heute nicht richtig erholt. Sie wurde durch politische Unruhen verstärkt: Im November 2019 wurde Morales von einer rechten Mafia gestürzt und floh ins Exil. Bei der Neuwahl ein Jahr später wurde dann Arce Präsident. Er musste mehr und mehr auf die Dollarreserven zurückgreifen. Jetzt sind sie verbraucht.
Ein bereits Monate dauernder Streit zwischen Arce und Morales ist in dieser Situation alles andere als hilfreich. Auch Morales will im nächsten Jahr wieder für das Präsidialamt kandidieren; unter Verfassungsrechtler:innen ist es umstritten, ob er das nach bereits drei absolvierten Amtszeiten überhaupt darf. In der Bevölkerung, vor allem bei der indigenen Mehrheit, ist der charismatische Morales viel beliebter als der eher hölzern wirkende Mangelverwalter Arce. Und Morales tut alles, um die Krise zu verlängern. Seit Monaten blockieren seine Anhänger:innen im Parlament die Erteilung von Lizenzen zur Ausbeutung von Boliviens riesigen Lithiumvorkommen an ausländische Firmen. Arce verspricht sich davon dringend benötigte Devisen.
Politischer Wirrkopf
Auch der verhinderte Putschist Zúñiga hat sich in diesen Streit eingemischt. Zwei Tage vor seinem Sturm auf den Palacio Quemado sagte er in einem Fernsehinterview, die Armee werde verhindern, dass Morales noch einmal zum Präsidenten gewählt werden könne. Arce hat ihn wegen dieser Drohung als Armeechef abgesetzt. Politisch scheint Zúñiga eher ein Wirrkopf zu sein. Bevor er am Mittwoch vergangener Woche den Regierungssitz stürmte, sagte er, er wolle «die Demokratie wiederherstellen» und «die Freilassung aller politischen Gefangenen» erzwingen. Namentlich nannte er Jeanine Áñez und Luis Fernando Camacho. Die beiden ultrarechten Politiker:innen spielten beim Putsch gegen Morales 2019 eine zentrale Rolle und wurden später zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Trotz dieser Nähe zur Rechten galt der Armeechef bis zu seiner Absetzung als ein Mann des Präsidenten.
Am Sonntag nun spekulierte auch Morales im Radio darüber, dass der dilettantische Putschversuch eine von Arce angeordnete Inszenierung gewesen sein könnte. Aber ganz egal, ob er das war oder nicht: Der Streit zwischen diesen beiden Männern kann die einst mächtige MAS spalten – und so für Bolivien fataler sein, als es die Posse vom vergangenen Mittwoch war.