Von oben herab: Ein Volks­empfindsamer

Nr. 27 –

Stefan Gärtner liest den authentischen Markus Somm

Neulich haben wir als New-York-Fans den Film «e-m@il für Dich» gestreamt, und es war erstaunlich, wie vergangen die frühen E-Mail- und Chatjahre schon sind, obwohl gerade 25 Jahre her, und mit welcher Nonchalance der böse Grossbuchhändler Joe die kleine Eckbuchhändlerin Kathleen – in jeder Hinsicht – übernehmen kann, ohne dass das gegen ihn ausgespielt würde. Denn Kapitalismus wird in den USA nicht als «soziale Marktwirtschaft» verbrämt, von der sich dann der jüdische Gross- und Finanzkapitalismus unvorteilhaft abhebt, sondern ist, wie die Liebe, was er ist. «You’ve Got Mail» ist also zugleich tief verlogen und völlig ehrlich, und natürlich dreht der gealterte Tom Hanks noch Filme und ist die gealterte Meg Ryan in der Versenkung verschwunden. Auch dafür sorgt der Markt.

Hanks würde übrigens seine oscarprämierte Rolle als aidskranker schwuler Anwalt in «Philadelphia» nicht mehr spielen, denn heute verlange man zu Recht «Authentizität». Ein wacher Beobachter (ich) hat daraufhin gefragt, ob die totale Authentizität nicht so weit gehen müsste, sterbenskranke Anwälte nur mehr von sterbenskranken Anwälten spielen zu lassen.

Altbundesrat Alain Berset von der SP ist jetzt zum Generalsekretär des Europarats gewählt worden, und der Chefredaktor vom «Nebelspalter», Markus Somm, wirft ihm in seiner «SonntagsZeitung»-Kolumne vor, nicht authentisch zu sein, nämlich Wasser zu predigen, aber Wein zu trinken: «Berset zieht in Strassburg in die Villa Massol ein, die der Europarat seinen hochbezahlten Generalsekretären zur Verfügung stellt. Erbaut im späten 19. Jahrhundert für zwei Brüder, die als Anwälte zu recht viel Geld gekommen waren, besitzt das wunderbare, klassizistische Haus eine Wohnfläche von 950 m2 auf vier Etagen … Lebt so der einfache Lagerist, für den die SP neulich eine 13. AHV-Rente herausgeschlagen hat? Oder die Näherin, die im Winter friert, weil sie die Heizkosten ihrer 60-m2-Wohnung nicht mehr tragen kann? Wenn Sozialdemokraten von sozialer Gerechtigkeit reden, sind es doch genau diese Unterschiede, die sie ausmerzen möchten. Und wenn ihre Chefs das ernst meinen, dann dürfen sie sich nicht alles leisten, was ihnen geboten wird.»

Hier trifft Somm tatsächlich einen Nerv, und zwar den zeitgenössisch rechten. In der bürgerlichen Demokratie als Demokratie des Besitzes sind Politiker und Politikerinnen gut- oder gar hochbezahlte Fachkräfte, die sich nicht selbstlos für das Volkswohl opfern, sondern ihre Arbeit tun. Die Sozialdemokratie ist dabei nicht dafür da, dass die einfachen Leute auf vier Etagen wohnen, sondern schlägt ihnen eine 13. AHV-Rente heraus, damit sie gesellschaftlichen Frieden halten. Dafür wird sie bezahlt, und wer das für korrupt hält, ist vielleicht Kommunist. Man kann das auch für korrupt halten, ohne Kommunistin zu sein, muss sich dann aber klarmachen, dass auch Hitler sein Selbstbild als anspruchsloser «Arbeiter» gepflegt hat, das er gegen die jüdisch-bolschewistische, das Volk aussaugende «Plutokratie» in Szene setzte.

Somm war mal Trotzkist, was heisst, dass er heute Berset dafür kritisiert, dass der «einer Partei angehört, die seit mehr als einem Jahrhundert den Neid auf Reiche bewirtschaftet». Dass ein SP-Funktionär anders wohnt als die Lageristin, ist aber keine Sache der SP, sondern der gesellschaftlichen Ordnung, die einen Topsatiriker und einstigen Kommunisten dafür bezahlt, das Propagandawort von der «Neidgesellschaft» zu verbreiten. Dieselbe AfD, die auf die abgehoben-volksverratende Politikerkaste der «Alt-» und «Systemparteien» schimpft, vertritt einen neoliberalen Wirtschaftskurs, und normalerweise sind die mit der Neidgesellschaft auch die mit der «Hypermoral». Es sei denn, die Moral ist auf ihrer Seite: als kerngesundes Volksempfinden.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

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