Licht im Tunnel: Postkarte aus Napoli
Michelle Steinbeck trifft einen misanthropischen Professor
Schliesslich sind wir aus dem verstürmten Hochwasserbasel getürmt, Schnellzug Richtung Vulkanausbrüche und Dürre, nächster Halt Napoli Centrale. Da sitzen wir nun vor der Bar und schwitzen, weil drinnen ein Verrückter krakeelt: «So können wir kein politisches Gespräch führen, so nicht!» Die anderen Männer schweigen und verdrehen die Augen, wir ducken uns hinaus an den wackligen Tisch, an dem ein nicht enden wollender Touri-Strom zäh vorbeizieht. Über die Gassen donnern Flugzeuge im Minutentakt, bringen und holen mehr Körper für einen Sonnenstich und Aperol Spritz für zwei Euro fünfzig. «Die scheissen alle», sagt mein Freund, und ich denke an die sizilianischen Hotels, die angeblich schliessen mussten, weil es kein Wasser für die Toilettenspülung gibt. Ich sage nichts, es ist zu heiss. So wollte ich es doch, geniess jetzt einfach, aber die Weltuntergangsstimmung bleibt weiter an mir kleben.
Der Krakeeler kommt raus, stellt sich in die Tür. Er ruft die Frau, die auf der anderen Seite der Gasse einen Stand mit Zeichnungen hat: «Amore, wie viel hast du heute getrunken? Ich schon zwei Liter!» Sie nickt ihm zu: «Professore.» Er registriert meinen Blick und setzt sich zu uns. «Und woher kommt ihr? Was! Basilea, Europa! Was wollt ihr hier in Afrika?» So lernen wir Marco kennen, den Uniprofessor: «Ich schäme mich, von hier zu sein, versuche, es zu verbergen, rede italienisch statt neapolitanisch, damit man es nicht merkt. Napoli ist heruntergekommen, und dank reicher Touristen aus Basilea können wir nicht mal mehr eine Pizza essen gehen. Napoli ist eine Stadt, wo die Leute vor Hunger sterben, weisst du. Und was macht ihr so?»
Hocherfreut beginnt er einen Vortrag über Dürrenmatt, Frisch, Peter Bichsel, er sagt Bischel, Emil Staiger. Die Schweiz sei das Land der Psychologen und der Schokolade, sagt er gerade, als ein grosser Mann vom vorbeiziehenden Menschenmaterial, wie der Professor es nennt, ausgespuckt wird und sich vor uns aufbaut: «Marco, was machst du da! Redest mit Touristen!» – «Das sind ‹scrittori› aus Basilea», sagt der Professor stolz. «Was!», macht der andere und wühlt in seinem Täschlein: «Hier! Mein Buch!» Ich bin gerührt: erschienen im Mai 2024, wie meins. «Auguri», sage ich. «Ja, ja», ruft er. «Seid ihr auf Facebook?» Begeisterung: Wir haben einen gemeinsamen Freund! Enttäuscht schauen wir auf das Foto, kennen ihn beide nicht: «Wahrscheinlich auch ein ‹scrittore›.» Der Professor grummelt: «Hier schreiben alle, aber niemand liest. Das ist die Misere, nicht wahr?»
Der Schriftsteller steckt das Handy weg und wedelt mit dem Buch Richtung Professor: «Der Besserwisser macht mir einfach keine Rezension!» Wieso nicht? «Weil er sich mit allen zerstritten hat, in allen Redaktionen hat er Streit!» Der Professor nickt gleichgültig, während der Schriftsteller mit dem Buch flattert: «Dabei ist er da drin! Ich habe ihn vermischt mit mir, das ist meine Rache. Hier, lies!» Dann fragt er, was wir so schreiben, und schreit: «Theater, das mach ich auch! ‹Divina Commedia› auf Neapolitanisch, Strassentheater, ich verkleidet als Dante!»
Zusammen reihen wir uns in den Strom ein, Dante stellt uns seinen Freunden vor, die Zeichnungen und Kettenanhänger verkaufen. Bei den Buchhandlungen werde ich hineingeschickt, draussen gierig erwartet: «Und? Haben sie es?» Ein angenehmer Wind fährt durch die Gasse, jetzt bin ich akklimatisiert.
Michelle Steinbeck ist Autorin in den Ferien. Sie bestellt sich «Gli spacciatori di Porta di Massa» von Dante aka Ludovico Van Baldari, erschienen im empfehlenswerten neapolitanischen Verlag Iod. Ihr Napoli-Roman heisst «Favorita».