Kulturelle Bildung: Kunst erfahren will gelernt sein

Nr. 32 –

Kulturelle Teilhabe ist ein Menschenrecht, doch ausgerechnet in den Schulen kommt sie oft zu kurz. Schweizweit versuchen deshalb verschiedene Projekte, den Zugang zu kultureller Bildung für Kinder zu erleichtern.

Illustration von Taltal Levi: eine Person vermittelt Kultur an Kinder

Am Ende der Lektion werden die Schüler:innen der Klassen 4a, 4b und 4c der Schule Bläsi in Basel auf der Bühne stehen und eine Geschichte aus ihrem Leben aufführen. Viele von ihnen haben zuvor noch nie Theater gespielt. Am Anfang der Stunde betritt Ilona Kannewurf, Schauspielerin und Tänzerin, in grauer Jogginghose die Bühne der Aula. Die 37-Jährige spielt vor, wie sie als kleines Mädchen an einer Mini-Play-back-Show teilgenommen hat. Die rund sechzig Schüler:innen sitzen vor ihr auf dem Boden und schauen gebannt zu.

Kannewurf leitet heute die Kulturstunde, es ist die letzte im Schulhaus am Bläsiring in diesem Schuljahr: Während zweier Jahre kamen Kulturschaffende aus verschiedenen Disziplinen für je eine Doppellektion und boten den Kindern vielfältige Erfahrungen mit Kunst und Kultur. Dabei konnten sich die Kinder beispielsweise im Poetry Slam, Filmen oder Comiczeichnen ausprobieren. Damit will das Projekt die Kultur ins Schulzimmer holen, um allen Kindern unabhängig von ihrem Hintergrund kulturelle Bildung zu ermöglichen.

Zu Beginn wird getanzt

Die positive Wirkung von künstlerischer Auseinandersetzung ist wissenschaftlich belegt: Das ergebnisoffene Schaffen fördert Kreativität, vernetztes Denken und den sozialen Zusammenhalt, aber auch die Fähigkeiten, kritische Fragen zu stellen und für ungewöhnliche Lösungen offen zu sein. Nicht zuletzt ist kulturelle Bildung die Basis für kulturelle Teilhabe, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben ist. Kulturelle Teilhabe wiederum befähigt dazu, das gesellschaftliche Leben mitzugestalten, und ist somit ein wichtiger Pfeiler für das Funktionieren einer Demokratie.

«Ich werde euch heute zeigen, wie man mit Körper, Tanz und Sprache eine Geschichte erzählen kann», sagt Kannewurf nach ihrer kurzen Aufführung. Zu Beginn wird getanzt. «Drei Schritte nach links, rechts und nach vorne», ruft sie, Reggaetonbeats dringen aus den Boxen, die Kinder machen es ihr nach. «Jetzt ihr alleine», sagt Kannewurf nach einigen Durchgängen. Verdutzte Gesichter, dann legen sie los, drei Schritte zur Seite, nach vorne, Arme hoch und so weiter. Bunte Socken auf Linoleumboden, unsichere Blicke in Richtung der Künstlerin. Einige sind bemüht, keine Fehler zu machen. Andere laufen drauflos und auch mal daneben.

Die Bewegung am Anfang sei wichtig für das Gelingen der Kulturstunde, sagt Kannewurf. Sie baut Hemmschwellen ab und öffnet die Kinder dafür, sich zu zeigen.

Ob und wie stark die Kinder mit Kultur in Berührung kommen, hängt zuerst von ihrem Elternhaus ab. Die «Statistik des Kulturverhaltens in der Schweiz» von 2019 zeigt, dass die Kinder von rund 10 Prozent der Eltern auf keine Weise mit Kultur in Kontakt kommen. Bei Kindern bildungsferner Eltern sind es 25 Prozent. Es wäre Aufgabe der Schule, das auszugleichen: Hier können alle Kinder erreicht werden, unabhängig von ihrem sozioökonomischen Hintergrund. Und was an der Schule nicht eingeübt wurde, wächst bekanntlich später nur mit erheblichem Aufwand. Aus diesem Grund postulierte bereits im Jahr 2010 die Schweizerische Unesco-Kommission in einem Manifest eine engere Verknüpfung von Kultur und Schule.

Zwar fliesst kulturelle Bildung in Form von gestalterischen Fächern und Musik in den regulären Unterricht ein. Der Begriff umfasst jedoch mehr als nur Zeichnen oder das Spielen eines Instruments. Laut dem Dachverband Kulturvermittlung Schweiz gehört die Interaktion mit professionellen Kulturschaffenden im Schulhaus ebenso dazu wie ausserschulische Kulturerfahrungen, darunter der Besuch von Museen oder Workshops mit Künstler:innen.

Illustration von Taltal Levi: Kinder zeichnen und lernen

Nach norwegischem Vorbild

Ob und wie stark diese Angebote in den Unterricht einfliessen, kommt darauf an, welche Schule ein Kind besucht. Die Kantone und Gemeinden fördern die kulturelle Bildung in unterschiedlichem Ausmass. Aber noch viel entscheidender sind die Ressourcen und das Interesse der jeweiligen Lehrpersonen, kulturelle Bildung in den Unterricht zu integrieren.

Das müsste nicht sein, findet Sarah Chaksad. Die Jazzmusikerin und Gründerin der Kulturstunde in Basel will mit dem Angebot zur Chancengerechtigkeit beitragen. Auf einer Tournee in Norwegen konnte sie miterleben, wie dort Konzerte von Musiker:innen fester Bestandteil des Schulunterrichts sind. «Ich wollte ein solches Angebot unbedingt in die Schweiz holen», sagt Chaksad, die früher selbst als Primarlehrerin arbeitete.

Zwar haben Schulen in Basel die Möglichkeit, kulturelle Angebote zu buchen; auf der Kantonswebsite finden sich entsprechende Hinweise. Der bürokratische Aufwand, von der Auswahl der Angebote bis über die Buchung, bleibt jedoch grösstenteils an den Lehrpersonen hängen. Laut Chaksad schreckt das viele ab.

Die Anforderungen an die Lehrpersonen sind heute zahlreich: Digitalisierung, Integrations- oder Elternarbeit sind nur einige Stichworte, all das bei mangelnden personellen Ressourcen. Auch Sarah Chaksad ist sich dessen bewusst. Deswegen soll die Kulturstunde den Lehrer:innen möglichst zusätzliche Arbeit abnehmen. Das Team rund um die Koleiterinnen Sarah Chaksad und Seline Kunz wählt die Künstler:innen aus, übernimmt die Betreuung und die gesamten Kosten. Damit entfällt für die Schule jeglicher bürokratische Aufwand. Sogar die Konzepte für die Vor- und die Nachbereitung der jeweiligen Stunde bekommen die Lehrpersonen fixfertig mitgeliefert.

«Der Lehrplan ist enorm eng getaktet», sagt ein Primarlehrer der Bläsi-Schule. Deswegen müsse sich der Aufwand für die Kulturstunde in Grenzen halten. Der aktuelle Zyklus sei machbar, findet er, mehr wäre zu viel. Gerade in der Bläsi-Schule seien die Begegnungen mit einer Künstlerin oder einem Künstler oft ein Eisbrecher, «um Stereotype aufzubrechen und neue Horizonte aufzuzeigen». Das Schulhaus liegt im Kleinbasler Matthäusquartier, in dem überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationsgeschichte leben, und wird von Kindern mit unterschiedlichem kulturellem und sozialem Hintergrund besucht. Für Chaksad und Kunz liegt der Mehrwert auch in der direkten Begegnung mit den Künstler:innen im Schulhaus: «Die Kinder brauchen verschiedene Identifikationsmöglichkeiten.»

Angegliedert ist das Angebot an die Musikakademie Basel, finanziert wird es bisher über die Stiftung Levedo. Das langfristige Ziel sei es, das Programm fest im Bildungsangebot von Basel-Stadt zu verankern und die Finanzierung breiter abzustützen.

Auch andernorts in der Schweiz gibt es Versuche, die kulturelle Bildung in den Schulunterricht zu holen. Pionier auf dem Gebiet ist der Kanton Aargau. Seit bald zwanzig Jahren gibt es dort das Projekt «Kultur macht Schule», eine Vermittlungsplattform für Künstler:innen und Schulen. Kulturschaffende können sich beim Kanton bewerben, ihre Angebote werden auf der Webplattform aufgeführt, stets mit einem direkten Bezug zum Lehrplan 21. «Das ist wichtig, damit die kulturelle Bildung sinnvoll in den Unterricht etabliert werden kann und nicht ausserschulisch oder freiwillig stattfindet», sagt Gunhild Hamer, Leiterin der Fachstelle Kulturvermittlung des Kantons Aargau und Gründerin des Projekts.

Finanziert werden die Angebote mit dem Impulskredit: Eine Hälfte der Kosten übernimmt der Kanton, die andere Hälfte trägt die jeweilige Gemeinde. In den letzten Jahren gab es laut Hamer eine kontinuierliche Steigerung der Nachfrage. Inzwischen nutzen gut neunzig Prozent aller Schulen im Aargau die Angebote. Auch der Kanton Zürich betreibt eine Vermittlungsplattform für Schulen, die ähnlich rege benutzt wird. Gerade die partizipativen Projekte seien aufgrund der beschränkten finanziellen Mittel teilweise bereits im Frühjahr ausgebucht, heisst es auf Anfrage. Laut Hamer, selbst Regisseurin, sind diese auch im Aargau die Königsdisziplin. «Damit Projekte wirklich nachhaltig sind, müssen die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, sich einzubringen.»

Und noch etwas hatte Gunhild Hamer vor fünfzehn Jahren im Aargau als schweizweit erstem Kanton eingeführt: An vielen Schulen fungiert ein:e Kulturverantwortliche:r als Bindeglied zwischen Lehrpersonen und Künstler:innen. Meist ist es eine Lehrperson, die sich für dieses Amt meldet. In dieser Rolle vernetzen sich die Kulturverantwortlichen mit Künstler:innen, tragen das Angebot an die Lehrpersonen heran, bringen Vorschläge für die Umsetzung ein oder stellen entsprechende Finanzierungsgesuche. Inzwischen haben andere Kantone das Konzept «Kulturverantwortliche an Schweizer Schulen» übernommen, darunter Bern, St. Gallen, Thurgau, Luzern und Zug.

Hamer empfiehlt den Gemeinden, pro Schulhaus einen separaten Budgetposten für kulturelle Bildung einzuführen. «Ansonsten besteht die Gefahr, dass sie am Ende doch wieder einer Sportwoche oder einem Weihnachtsausflug zum Opfer fällt.»

Erstmals ein kantonsübergreifendes Projekt ins Leben gerufen hat die Stiftung Mercator 2018; es wird seither vom Dachverband Kulturvermittlung Schweiz umgesetzt. Unter dem Namen «Kulturagent:innen für eine kreative Schweiz» sind Künstler:innen an achtzehn Schulen, verteilt auf sieben Kantone, im Einsatz. Während rund zweier Jahre bieten sie massgeschneiderte Programme dafür an, wie Kultur in den Unterricht integriert werden kann, mit dem übergeordneten Ziel, kulturelle Bildung nachhaltig im Lehrplan zu verankern.

Illustration von Taltal Levi: Kinder tanzen

Autogramm auf dem Arm

Zurück im Bläsi-Schulhaus in Basel: Nach einer Stunde ist es in der Aula still geworden. Die Kinder sitzen verstreut auf dem Boden mit Blatt und Papier und dem Auftrag, ein Erlebnis aufzuschreiben oder zu zeichnen. Wenige Minuten später stehen sie gruppenweise auf der Bühne: Sie erzählen von einer Reise nach Paris, einem Unfall auf dem Trampolin oder einem Bootsausflug. Dass sich das Format der Kulturstunde vom herkömmlichen Stundenplan unterscheidet, begeistert die Schüler:innen. Ein Viertklässler sagt am Schluss: «Mir hats gefallen, wir konnten alles frei entscheiden und ausprobieren, das kenne ich vom normalen Unterricht nicht.»

Als nach neunzig Minuten die Schulglocke läutet, stürmen die Kinder nicht sofort nach draussen, sondern bilden eine Traube um Ilona Kannewurf. Sie strecken ihr ihre weissen Turnschuhe entgegen, ihre T-Shirts, Etuis oder die nackten Arme, um ein Autogramm von der Künstlerin zu bekommen. Mindestens mit diesem schwarzen Schnörkel wird das kulturelle Erlebnis bei den Kindern noch eine Weile nachhallen.

Die Illustrationen entstanden aufgrund von Skizzen, die Taltal Levi während der Kulturstunde im Bläsi-Schulhaus machte.