Kulturelle Teilhabe: «Kultur umfasst mehr als das Schaffen von Kunst»

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Ein Viertel der Besucher:innen von Kulturanlässen fühlen sich fehl am Platz. Myriam Schleiss, Leiterin der Dienststelle Kulturelle Teilhabe beim Bundesamt für Kultur (BAK), erklärt, wie kulturelle Teilhabe für alle ermöglicht werden soll.

WOZ: Myriam Schleiss, welches kulturelle Ereignis ist Ihnen aus Ihrer Kindheit in Erinnerung geblieben?

Myriam Schleiss: Oh, da gibt es viele. Meine Eltern haben mich sehr früh mit in die Oper genommen, in ein kleines Theater in Vevey, wo ich aufgewachsen bin. Mit vierzehn Jahren besuchte ich einen Theaterkurs, der an meiner Schule ausserhalb des Unterrichts angeboten wurde. Meine erste Erfahrung als Darstellerin auf einer Bühne hat mich sehr geprägt. Heute bin ich in vier verschiedenen Theatervereinen tätig, auf und hinter der Bühne.

Sie sind also früh mit kultureller Bildung in Kontakt gekommen. Studien beschreiben frühzeitige Kulturbesuche als für das spätere Kulturverhalten und die kulturelle Teilhabe wichtig. Letztere ist seit 2016 in der Kulturbotschaft des Bundes verankert. Was bedeutet sie in der Praxis?

Kulturelle Teilhabe bedeutet, dass jede Person in der Schweiz die Möglichkeit haben soll, sich am kulturellen Leben zu beteiligen. Das Spektrum reicht von einem Museumsbesuch mit oder ohne Führung bis hin zum kulturellen Selbstausdruck, wie zum Beispiel in einem Chor zu singen. Es ist wichtig, zu betonen: Kulturelle Teilhabe ist ein Grundrecht aller Menschen. Darum hat der Staat eine Verantwortung dafür, dass jede Person am Kulturleben gemäss ihren eigenen Vorstellungen teilhaben kann. Egal wie viel Geld sie hat, welche Sprache sie spricht oder ob sie auf einen Rollstuhl angewiesen ist.

Was sind die grössten Hürden, damit diese Teilhabe für alle in der Schweiz erfüllt ist?

Eine Antwort liefert die Statistik zum Kulturverhalten des Bundesamts für Statistik von 2019. Die meisten Personen gaben an, zu wenig Zeit oder Mittel zu haben, um kulturelle Veranstaltungen zu besuchen. Ein weiterer Grund, und das treibt mich am meisten um: Ein Viertel der Personen fühlen sich beim Besuch von Kulturinstitutionen und -anlässen fehl am Platz. Das zeigt, dass die Bemühungen der letzten Jahre, die kulturellen Angebote zugänglicher zu machen, noch nicht ausreichen.

Wie könnte man diese Wirkung verstärken?

Man muss an verschiedenen Orten ansetzen. Fachleute sprechen von den drei Ps: Personal, Programm, Publikum. Am häufigsten nehmen Anbieter das Publikum in den Fokus und beschäftigen sich mit den Fragen, wer kommt und wie die Zielgruppe erweitert werden kann. Aber man kann nur ein breiteres Publikum ansprechen, wenn man auch das Personal diverser aufstellt. Es ist schwierig, eine Kulturinstitution für die gesamte Bevölkerung zu öffnen, wenn die Personen, die dort arbeiten, die Vielfalt der Bevölkerung nicht widerspiegeln. In den letzten Jahren sind viele Prozesse in Richtung Diversität und Inklusion angestossen worden, aber es braucht noch deutlich mehr.

Was könnte die Schule tun, um kulturelle Teilhabe noch stärker zu fördern?

Das BAK hat keine Zuständigkeit im Bereich der schulischen Bildung. Aber im Rahmen des Programms «Jugend und Musik» arbeiten wir mit den Schulen, da sie auch Bundesbeiträge für ausserschulische Musikkurse und -lager erhalten können. Bisher haben leider noch wenige Schulen von diesem Angebot profitiert. Was ich beobachte, ist, dass es sehr auf die einzelnen Lehrpersonen ankommt, wie stark die Schülerinnen und Schüler mit Musik und Kultur allgemein in Verbindung kommen. Persönliche Kontakte und eine gute Vernetzung zwischen Lehrpersonen und Kulturschaffenden lohnen sich.

Die aktuelle Kulturbotschaft 2025–2028 des Bundes will die Amateurkultur, auch «Laienkultur» genannt, stärker fördern. Warum ist das so wichtig?

Der stärkere Fokus hat mit der Covid-19-Pandemie zu tun. Während dieser Zeit wurde allen bewusst, wie wichtig die Amateurkultur, die sich oft in Vereinen abspielt, ist. Sie ermöglicht Zugehörigkeit und stärkt den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Viele Vereine kämpfen seit der Pandemie um Nachwuchs und Publikum. Mit einer gezielten Förderung von Vereinsstrukturen und -prozessen will der Bund die Amateurkultur für die Zukunft stärken.

Würden Sie sagen, dass die Amateurkultur zugänglicher ist als die professionelle und daher geeigneter, um kulturelle Teilhabe zu ermöglichen?

Laut Statistik ist das Bildungsniveau sogar für die Teilhabe an Amateuraktivitäten relevant. In einigen Bereichen ist dies aber weniger ausgeprägt, wie zum Beispiel im Chorwesen: Dort sind die sozioökonomischen Hintergründe der Sängerinnen und Sänger diverser als etwa beim Publikum eines Konzerts. Generell würde ich professionelles Kulturschaffen und Amateurvereine nicht gegeneinander ausspielen, da sie im Alltag auch viele Berührungspunkte haben und sich gegenseitig bereichern.

Der Bund übernimmt nur zehn Prozent der öffentlichen Unterstützung an die Kultur; den grössten Teil stemmen die Kantone und Gemeinden. Welchen Einfluss hat er damit überhaupt?

Der Bund fokussiert sich etwa auf nationale Programme und Projekte wie das erwähnte Programm «Jugend und Musik». Ausserdem kann er dringenden kulturpolitischen Themen, wie zum Beispiel der Nachhaltigkeit im Kulturbereich oder der sozialen Sicherheit von Kulturschaffenden, eine gewisse Sichtbarkeit geben. Weiter ist er für die Vernetzung zuständig, indem er unterschiedliche Akteure aus der ganzen Schweiz zusammenbringt, Partnerschaften fördert oder nationale Treffen organisiert. Viele dieser Aufgaben werden übrigens im Rahmen des Nationalen Kulturdialogs – der gemeinsamen Plattform von Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden – wahrgenommen.

Wofür wollen Sie sich als Leiterin der Dienststelle kulturelle Teilhabe beim BAK in den nächsten Jahren einsetzen?

Wir hoffen, einen Beitrag daran zu leisten, dass sich künftig alle Menschen an kulturellen Anlässen und Institutionen willkommen fühlen und eigenständig teilhaben und mitbestimmen können. Dafür muss kulturelle Teilhabe in der Kulturförderung als Selbstverständlichkeit betrachtet werden. Das ist heute leider noch nicht immer der Fall, was oft mit einer traditionell engen Definition des Begriffs zu tun hat, die Kultur als das Schaffen von Kunst versteht. Dabei umfasst Kultur weit mehr als das. Kulturförderung und Kulturpolitik müssen sich stärker als Gesellschaftspolitik verstehen und ihren Beitrag zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts wahrnehmen. Denn wenn eine Gesellschaft zusammenhält, ist sie resilienter. Und das ist für die Zukunft entscheidend.