US-Präsidentschaftswahl: Das Rennen bleibt offen

Nr. 29 –

Je weniger die Demokrat:innen an einen Sieg glauben, desto weniger ist er möglich. Nach dem Attentat auf Donald Trump müssen sie erst recht ihren Defätismus ablegen.

«Die Attacke gegen Donald Trump ist Amerika nicht angemessen.»
«The New York Times»

«Attentat auf Trump verändert alles.»
Bloomberg News

«In Amerika gibt es keinen Platz für diese Art von Gewalt.»
US-Präsident Joe Biden

«Die Wahl ist damit praktisch entschieden.»
Historiker Manfred Berg auf «Zeit Online»

«Trump hält schon die Reden eines Präsidenten.»
Historiker Georg Schild auf Seite 8 dieser WOZ

Nach dem Attentat auf Donald Trump, das ein zwanzigjähriger Mann am vergangenen Samstag bei einer Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania verübt hatte, liessen sich zwei Reaktionsmuster feststellen: Zum einen wurde die Gewalt von nahezu allen Seiten als «unamerikanisch» bewertet, also als etwas, das sich nicht mit den Werten und Normen des Landes vertrage. «Wir sind besser», lautete die Botschaft. Zum anderen wurde ad hoc diagnostiziert, dass dieses Ereignis über den laufenden Wahlkampf entscheide. Wenn es nicht schon vorher klar war, dass Trump die im November stattfindende Präsidentschaftswahl gegen Biden gewinnt, so der Tenor vieler Kommentare, dann spätestens jetzt.

Beides ist irreführend, man könnte sogar sagen: falsch. Politische Gewalt gehört zum amerikanischen Alltag, auch Anschläge gegen Politiker:innen haben eine lange Geschichte. Insofern zeigt sich in den vielen Statements vor allem eine Verdrängungsleistung. Und natürlich ist diese Wahl auch noch nicht entschieden, gerade weil die politische Situation so chaotisch und unberechenbar ist. Im Grunde hat sich durch das Attentat auf Trump gar nicht allzu viel verändert. So zermürbend schnelllebig dieser Wahlkampf ist, so wahrscheinlich ist eben auch, dass das Land bald schon wieder über andere Dinge spricht. Die Frage ist, worüber.


Selbstverständlich ist nicht davon auszugehen, dass das Attentat im Verlauf des Wahlkampfs gar keine Rolle mehr spielen wird. Trump selbst wird immer wieder daran erinnern. Beim Nominierungsparteitag der Republikanischen Partei in Milwaukee trat er am Montag mit weisser Binde am verletzten Ohr auf. Immer wieder hallte es «Fight, fight, fight!» durch die Mehrzweckhalle. Mit diesen Worten war der verletzte Trump am Samstag nach dem Attentat von der Bühne in Pennsylvania getreten. Die Republikaner:innen werden weiter auf die erprobte Kombination aus Opferinszenierung und Racheschwur setzen. Millionen von Amerikaner:innen stehen dahinter. Aber ob der Angriff auf Trump nun zusätzliche Wähler:innen mobilisieren wird? Das ist eher fraglich.

Das Momentum spricht für Trump, daran besteht kein Zweifel. In den Umfragen der wichtigen Swing States liegt er seit Monaten vorne. Bidens greisenhaftes Auftreten schreckt inzwischen auch engste Verbündete ab (siehe WOZ Nr. 28/24). Ein führender Kongressabgeordneter der Demokratischen Partei, der anonym bleiben wollte, sagte gegenüber dem Magazin «Axios» vor wenigen Tagen: «Wir haben uns alle mit einer zweiten Trump-Präsidentschaft abgefunden.» Angesichts solcher Statements kann man sich nur sehr schwer vorstellen, dass es der Partei unter Biden noch gelingt, das Ruder herumzureissen. Die Demokrat:innen scheinen in ihrem eigenen Defätismus gefangen. Je weniger sie an einen Sieg glauben, desto weiter rückt dieser weg.

Andererseits aber geschahen in den vergangenen Wahlzyklen oftmals unerwartete Dinge, durch die die Ergebnisse anders ausfielen als von der Expert:innenklasse prognostiziert. 2016 etwa verlor Hillary Clinton, obwohl nahezu jedes Meinungsforschungsinstitut sie im Vorteil gesehen hatte. Bei den Halbzeitwahlen 2022 wiederum konnten die Democrats auch deshalb überraschende Erfolge verbuchen, weil der von rechten Richter:innen dominierte Supreme Court zuvor gegen das landesweite Abtreibungsrecht gestimmt hatte. Soll heissen: In den dreieinhalb Monaten, die es noch bis zur Wahl sind, kann viel passieren.

Stellen wir uns kurz vor, US-Präsident Biden würde seine Kandidatur in den kommenden Wochen tatsächlich noch zurückziehen. Die Parteispitze könnte – zumindest theoretisch, wenn Vizepräsidentin Kamala Harris nicht sofort als Nachfolgerin bestimmt würde – beim Nominierungsparteitag Mitte August in Chicago einen offenen Wettbewerb organisieren. Die landesweite Aufmerksamkeit wäre für eine ordentliche Weile garantiert auf die Democrats gerichtet, zum Leidwesen Trumps. Das mag in gewisser Weise ein naives Gedankenspiel sein. Könnte, würde, wäre. Andererseits zeigen sich hier eben auch Handlungsspielräume. Während die Republikaner:innen vor allem auf negative Affekte und eine schrille Show setzen, müssen die Demokrat:innen anders auffallen – wenn nicht durch personelle Überraschungen, dann zumindest durch ein mutiges Programm. Die Partei ist jedenfalls nicht zum Hinterherhecheln verurteilt. Sie entscheidet sich nur immer wieder dafür.


Trump und die Republikaner:innen haben den Vorteil, dass sie ihrem politischen Gegner Dinge vorwerfen, die sie selbst machen, und dass das im eigenen Lager nicht als Widerspruch, sondern als Stärke wahrgenommen wird. Der republikanische US-Senator J. D. Vance aus Ohio, der am Montag zum Vizepräsidentschaftskandidaten ernannt wurde, sagte, dass die demokratische Spitze den Anschlag auf Trump zu verantworten habe. «Das heute ist kein isolierter Vorfall», so Vance. Die Rhetorik der Biden-Kampagne habe direkt zur versuchten Ermordung von Expräsident Trump geführt. Während sich Rechte also gerne über die Idee, dass Worte Gewalt vorbereiten können, strategisch lustig machen, nutzen sie dieses Argument nun für sich.

Die schreiende Heuchelei kurz ignoriert, hat Vance mit seinem ersten Satz recht: Der Mordversuch gegen Trump ist tatsächlich nicht in Isolation geschehen. Dieses Ereignis hat etwas mit dem politischen Klima im Land zu tun, das vor allem von der Republikanischen Partei vergiftet wird. Es hat auch etwas damit zu tun, dass die gleiche Partei seit Jahrzehnten strengere Waffengesetze verhindert, was zur Folge hat, dass in den USA rund 44 Millionen halbautomatische Gewehre vom Typ AR-15 im Umlauf sind. Mit dieser Waffe schoss der Attentäter, übrigens ein registrierter Republikaner, am Samstag auf Trump.

Präsident Biden sprach nach dem Attentat von einer «politischen Gewalt», wie sie «noch nie da gewesen» sei. Diese Einschätzung geht an der Realität vorbei, weil es in der Geschichte der USA zu unzähligen Anschlägen gegen Politiker:innen gekommen ist, von denen viele tödlich waren. Immerhin wurden vier der bisher 46 US-Präsidenten umgebracht.

Darüber hinaus suggeriert Bidens Aussage fälschlicherweise, dass Gewalt nur dann politisch ist, wenn sie auf Politiker:innen gerichtet ist. Wie aber, wenn nicht politische Gewalt, sollte man es sonst nennen, dass jedes Jahr Zehntausende Amerikaner:innen frühzeitig sterben, weil sie sich keine ausreichende Gesundheitsversorgung leisten können? Welcher Begriff beschreibt die Tatsache besser, dass die US-Polizei Monat für Monat rund hundert Menschen tötet, vor allem arme und nichtweisse Amerikaner:innen? Und als was, wenn nicht als politische Gewalt, sollte man es einordnen, dass die US-Regierung seit vielen Monaten den Krieg Israels in Gaza unterstützt und ermöglicht, mit einer unfassbar hohen Zahl ziviler Opfer? Die Liste liesse sich lange weiterführen.


Der Mordanschlag von letzter Woche wird in die Geschichte eingehen, das Foto von Trump, wie er mit blutendem Kopf die rechte Faust in den blauen Himmel reckt, im kollektiven Gedächtnis bleiben. Allerdings versteht man dieses Ereignis vielleicht erst dann, wenn man es gerade nicht als Anomalie betrachtet, sondern im Kontext historischer Kontinuitäten und gegenwärtiger politischer Entscheidungen.