Biodiversität: Viel Leben im Totholz

Nr. 50 –

Die Lebensraumvielfalt in der Schweiz nimmt ab. Trotzdem gibt es auch gute Neuigkeiten zu verzeichnen. Ein Rundgang durch den Sihlwald.

«Man sieht es mittlerweile richtig gut», sagt Nicole Aebli. Sie stapft durch feuchtes Buchenlaub. Über ihr taucht die tief stehende Sonne Baumwipfel in gelbliches Licht. Aebli zeigt auf abgestorbene Bäume, die sich windschief an ihre Nachbarn lehnen, auf umgeknickte Baumstämme am Boden. Sie sind überzogen mit Baumpilzen, Moosen, Sauerklee oder kleinen Farnen und voller Löcher von Käferlarven. «Dieser Wald wird immer wilder», sagt die Rangerin. Seit gut zehn Jahren werden ausser für die Instandhaltung der Waldwege im von ihr mitunterhaltenen Sihlwald keine Bäume mehr gefällt, und Totholz bleibt liegen. Die gewollte Unordnung ist ein Eldorado für Tier- und Pflanzenwelt.

Der Naturerlebnispark Sihlwald unweit von Zürich ist seit 2007 ein Naturwaldreservat. Zusammen mit dem Nationalpark, den Biotopen von nationaler Bedeutung, den Wasser- und Zugvogelreservaten und den Jagdbanngebieten gehört er zu den geschützten Flächen der Schweiz, die etwa sechs Prozent der Landesfläche ausmachen.

Die Schweiz hat europaweit einen der tiefsten Anteile an Schutzflächen – obwohl sie sich wie die meisten Länder zu den Aichi-Biodiversitätszielen der Vereinten Nationen verpflichtet hatte, wonach siebzehn Prozent der Fläche bis 2020 geschützt sein sollten. Kein Land hat diese Kernziele erreicht, nun hofft man an der laufenden Weltnaturkonferenz in Montreal auf neue Vereinbarungen.

Gemäss dem Weltbiodiversitätsrat IPBES sind eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht, die Artenvielfalt nimmt weltweit rapide ab. Die Hauptursache für das Artensterben ist die drastisch veränderte Gewässer- und Landnutzung durch den Menschen.

Erste Hoffnungsschimmer?

So steht der Sihlwald stellvertretend für die Übernutzung der Schweizer Wälder bis ins 20. Jahrhundert. Noch heute spaziert man auf ehemaligen Schienentrassees durch den Wald. Mit kleinen Transporteisenbahnen wurde früher das geschlagene Holz aus dem Wald gebracht. Heute profitieren Pflanzen und Tiere vom sich selbst überlassenen Waldreservat: In grossen Rindenstücken, die lose an einem toten Baum hängen, hat Nicole Aebli Fledermäuse und Zaunkönige entdeckt, ein befreundeter Ranger sogar einen Dreizehenspecht, ein seltener Gast. Der einzige Specht in der Schweiz mit drei Zehen und gelbem Scheitel hat nämlich sehr hohe Ansprüche, was die Alt- und die Totholzmengen in seinem Lebensraum angeht.

«Die roten Listen der gefährdeten oder vom Aussterben bedrohten Arten werden immer länger», sagt Kurt Bollmann, Biodiversitäts- und Naturschutzforscher an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Das sei aber noch nicht das ganze Bild zum Zustand der Biodiversität: Man müsse die Gefährdungsanalysen ganz genau betrachten.

«Die Landschaft, die wir oft als Referenz nehmen, war eine komplett andere als heute», sagt Bollmann. Bei den roten Listen etwa wird der heutige Stand mit demjenigen zu Beginn oder Mitte des letzten Jahrhunderts verglichen: «Die Schweiz hatte damals halb so viele Bewohner:innen, war dünner besiedelt, weniger verbaut und extensiver bewirtschaftet.» Ein solcher Vergleich zeigt etwa, wie die Intensivierung der Landwirtschaft den Vögeln des offenen Kulturlands zugesetzt hat. Umgekehrt hat sich die Situation für die Biodiversität im Schweizer Wald nach der historischen Phase des grossen Holzhungers in den letzten 150 Jahren stetig verbessert.

Untersuche man kürzere Zeitspannen, ergebe sich ein differenzierteres Bild, sagt Bollmann. Diese Woche hat er mit Kolleg:innen eine Studie mit Beobachtungen von Artexpert:innen zum Vorkommen von Tagfaltern, Libellen und Heuschrecken seit den 1980er Jahren veröffentlicht. Insgesamt konnte dabei über alle beobachteten Arten keine Veränderung festgestellt werden. Genauer gesagt: Arten mit Flächengewinn und die mit Flächenverlust hielten sich die Waage. Die Studie untersuchte zwar nicht alle Insektengruppen, aber die Ergebnisse sind bemerkenswert, ist doch der Insektenschwund ein breit diskutiertes und belegtes Thema. «In zusätzlichen Studien haben wir Indizien gefunden, dass die Talsohle des Arten- und Individuenverlusts in den letzten zwanzig Jahren überwunden wurde», sagt Bollmann weiter. Spezialisierte und anspruchsvolle Arten würden in solchen Untersuchungen aber nur selten erfasst, betont er.

Kritiker:innen bemängeln, dass die Studien zu wenig weit zurückreichen: Wenn die Artenzahl zum Referenzzeitpunkt bereits tief gewesen sei, sehe alles nach grossem Fortschritt aus. Es stimmt, sagt Bollmann, er könne nicht genau sagen, wie die heute erfassten Arten vor hundert Jahren verbreitet waren. Aber er beobachte eine relative Verbesserung. «Und das ist die Chance für die Förderung der Biodiversität für die Zukunft: herauszufinden, welche Massnahmen im heutigen Kontext effektiv sind.»

Zusatzstress Klimawandel

Innerhalb der untersuchten Insektengruppen liessen sich aber durchaus Unterschiede beobachten: Die kälteempfindlichen Arten haben zu-, die Kälteadaptierten abgenommen. Ähnlich also wie bei Vögeln und Pflanzen, wo die Gebirgsspezialisten zu den grossen Verlierern gehören. Lange war unklar, was der Einfluss des Klimawandels auf die Biodiversität ist. Mittlerweile haben internationale und nationale Studien belegt, dass er nicht nur für einzelne Arten problematisch ist, sondern übergreifend etwa den gleichen und zukünftig zunehmenden negativen Effekt auf die Biodiversität hat wie der Landverbrauch und die direkte Lebensraumzerstörung.

«Stirbt eine Art aus, stimmt mich das persönlich traurig», sagt Bollmann. «Doch fachlich wesentlicher ist, dass es artenreiche Nahrungsnetzwerke und Ökosysteme gibt, sie geschützt werden und funktionieren und dadurch eine unbezahlbare Leistung für Mensch und Natur erbringen.» Dieser Ansatz wird auch im Sihlwald verfolgt. Anstatt um die Pflege einzelner Tier- oder Pflanzenarten geht es im Wildnispark in erster Linie um «Prozessschutz». Der Wald und seine Bewohner sollen sich möglichst ungestört entwickeln können.

Aber auch das Zusammenspiel innerhalb von Lebensgemeinschaften wird durch den Klimawandel bedroht: Er verändert Lebenszyklen von Tieren und Pflanzen. Insekten etwa, die zu den wechselwarmen Tieren gehören, reagieren stark und schnell auf Temperaturveränderungen. Umgekehrt ist beispielsweise der Vogelzug der Langstreckenzieher zu Winter-, Brut- und Nistplätzen hauptsächlich von den Tag-Nacht-Längen abhängig und deshalb weniger direkt vom Klimawandel. In Kombination kann das dazu führen, dass gefrässige Jungvögel zu einem Zeitpunkt im Brutquartier aufgezogen werden, zu dem sich ihre Insektenlarvennahrung längst verpuppt hat oder davongeflattert ist. Weil solche «Mismatches» schwerwiegende Folgen für ganze Ökosysteme haben, hat die Umweltorganisation der Vereinten Nationen kürzlich explizit vor dieser unterschätzten Gefahr gewarnt.

«Der Wandel der Ökosysteme geht zurzeit extrem schnell vor sich», sagt Bollmann. Ihn und seine Fachkolleg:innen beunruhigt besonders, dass die Lebensgemeinschaften immer ähnlicher werden, auch in der Schweiz. Weniger Diversität bedeutet weniger Resilienz. «Extremereignisse wie etwa Hitze und Sommer mit Dürren können von den Ökosystemen weniger gut abgefedert werden. Und genau dies ist in Zukunft zu erwarten.»

Knackpunkt Umsetzung

Was gegen Biodiversitätsverlust getan werden kann, hat der Weltbiodiversitätsrat aufgezeigt. Im Auftrag des Bundes wurden die vorgeschlagenen Handlungsoptionen für die Schweiz analysiert. Mit dabei war Jodok Guntern vom Forum Biodiversität der Schweizer Akademie der Naturwissenschaften. «In der Schweiz werden zahlreiche effektive Massnahmen zu Biodiversitätsförderung umgesetzt oder wären zumindest bekannt», sagt er. Die Biodiversität müsse aber in allen Sektoren stärker berücksichtigt werden. Für ihre Erhaltung spielen auch die Biotope von nationaler Bedeutung eine zentrale Rolle. «Aber da hapert es teilweise bei der Umsetzung», sagt Guntern. Tatsächlich sind gemäss Bundesamt für Umwelt mehr als drei Viertel der inventarisierten Biotope von nationaler Bedeutung ungenügend oder garnicht geschützt.

Dank einer umfassenden Studie sind biodiversitätsschädigende Subventionen, die ungewollt finanzielle Fehlanreize etwa in den Bereichen Verkehr oder Landwirtschaft schaffen, bekannt. Von den über hundert identifizierten Subventionen sollen nur gerade acht vom Bund weiter geprüft werden, passiert ist noch nicht viel. Dies, obwohl immer klarer wird, wie wichtig etwa bei Konsumfragen oder Planungsverfahren ein sektorübergreifendes Mitdenken der Biodiversität ist.

Beim Verlassen des Sihlwalds klopft es leise in der Höhe. Nicole Aebli schaut nach oben. Ein Buntspecht. Sie hätten so viele alte, verlassene Spechthöhlen, sagt sie, die von Höhlenbrütern wie Waldkäuzen, Hohltauben oder Kleibern bewohnt würden. «Die Nistkästen werden darum langsam reduziert.»

Die Weltnaturkonferenz

Vom 7. bis 19. Dezember findet in Kanada die 15. Konferenz der Uno zum Übereinkommen über die Biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) statt. Ursprünglich wurde das internationale Regelwerk am «Erdgipfel» der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro auf den Weg gebracht. Das CBD verfolgt drei Hauptziele: die Biodiversität (Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten, Lebensräumen und aller Gene) erhalten, natürliche Ressourcen nachhaltig nutzen und den Gewinn aus der Nutzung gerecht aufteilen.

An der diesjährigen Konferenz soll ein neues Biodiversitätsabkommen mit messbaren Umsetzungsplänen bis 2030 beschlossen werden. Umweltorganisationen und verschiedene Staaten fordern, dass dreissig Prozent der Land- und Meerfläche unter Schutz gestellt werden und damit das Artensterben gestoppt und neue Lebensräume geschaffen werden – im Einklang mit den Rechten der lokalen und indigenen Bevölkerung. Eine der grossen Fragen: Wer bezahlt für die Massnahmen? Die Kosten für den Erhalt der Biodiversität werden von der Uno auf 100 Milliarden Dollar jährlich geschätzt.