Schreiben für den Tourismus: Das grosse Storytelling in den Bergen

Nr. 20 –

Geschichten sind gut fürs Geschäft. Im Tourismus setzt man deshalb vermehrt auch auf AutorInnen. Wie wirken sich diese neuen Allianzen aufs Schreiben aus?

Einst waren es Geistliche und Lehrer, die sich in den Bergen der Schriftstellerei annahmen. Und natürlich Gäste wie C. F. Meyer oder Johanna Spyri, die in Graubünden den historischen Roman ansiedelten oder das alpine Heimwehbuch «Heidi». Und heute? Während sich alte Grenzen und Abhängigkeiten aufgelöst haben, bilden sich neue Genres und Allianzen heraus. Storytelling verbindet die Schriftstellerei zunehmend mit Werbung und Wellness. Und wenn der Berg nicht laut genug ruft, ruft der Tourismus die Kulturschaffenden hinzu.

Gefragt: Lokalkolorit

Petra Ivanov recherchiert für ein Hilfswerk zum Thema «Frauenhandel in Albanien», doch ihren Artikel mit den ernüchternden Fakten will niemand publizieren. Also verpackt sie ihr Material in eine Geschichte. Der Krimi «Fremde Hände» erscheint 2005 und gelangt auf die Liste der bestverkauften Bücher der Schweiz – dank gutem Storytelling. Zwei Jahre später schickt Ivanov ihre Polizistin Vera Haas ins bündnerische Thusis in die Ferien – der dortige Kulturförderverein hat zum Zehnjahrjubiläum einen Krimi bei ihr bestellt. Es entsteht «Angst, Haas und Glockenschlag» um das Verschwinden eines Tourismusdirektors. Die Ermittlungen führen die Lesenden in zahlreiche bekannte Lokalitäten vor Ort: Kirche, Buchhandlung, Läden und Restaurants. Dabei muss die Autorin sehr genau arbeiten, denn ihr Roman liegt am jeweiligen Schauplatz zur Lektüre auf. Hier ist es neben gutem Storytelling vor allem das Lokalkolorit, das das Publikum fesselt.

«Lokalkolorit ist ein knappes Gut geworden, man scheint Kapital daraus schlagen zu können, es wird regelrecht danach geschürft.» Schriftsteller Peter Webers Feststellung in einem Gespräch mit der WOZ vor bald zwanzig Jahren hat nichts an Aktualität eingebüsst, im Gegenteil. Die Aura der Orte, ihr überliefertes Hier und Jetzt, wird heute in den Tourismusdestinationen als wichtige Quelle der Produktedifferenzierung gehandelt. «Es ist eine Atmosphäre in der Art eines Gesamtkunstwerks zu schaffen», heisst es dazu in einem gängigen Leitfaden zur Angebotsinszenierung. Geeignete Motive dafür seien «vor allem in der Geschichte, in der Welt der Sagen und Mythen, in der Kultur oder in der Landschaft zu suchen», denn die inszenierten Themen sollen möglichst «authentisch» wirken und «Alleinstellungscharakter haben».

Geschichten fürs Hotel

Zum 111. Jahr seines Bestehens schenkt das Hotel Schweizerhof auf der Lenzerheide sich und seinen (potenziellen) Gästen 2015 «ein feines und schönes Lesebuch», denn «gerade das Hotelleben schafft einen eigenen Spirit, einen speziellen Geist, geeignet als Kulisse für Storys». Neben Kabarettisten oder Moderatorinnen treten im Kulturprogramm auch SchriftstellerInnen wie Alex Capus oder Irena Brežná auf und steuern einen Text für «Zimmerservice» bei. Eröffnet wird der Band von Arno Camenisch, der dem Anlass entsprechend von einer Jubiläumsrede berichtet: «Auf dem Podium stand bei brütender Hitze ein hochdekorierter Politicus von stattlichem Gewicht und warf Sätze wie Molotowcocktails ins Publikum, dass die älteren Ehrendamen mit ihren spanischen Windmaschinen jedes Mal zusammenfuhren.» Die Stelle knallt so schön, dass Camenisch sie in seinem im selben Jahr erscheinenden Roman «Die Kur» nur leicht verändert noch einmal verwendet – oder täuscht vielleicht die Reihenfolge, und die Stelle entstand ursprünglich für den Roman? Dort stehen wir freilich «im Foyer» nicht mehr des «Schweizerhofs», sondern offenbar eines anderen Hotels. Welches es ist, erfährt man, wenn man den Band «Wie gross ist die Welt und wie still ist es hier. Geschichten ums Waldhaus in Sils Maria» zur Hand nimmt. Für das bekannte Engadiner Hotel haben 2014 «neunzehn Autorinnen und Autoren einen sehr besonderen Ort in einer inspirierenden Landschaft» beschrieben. Camenischs dortiger Beitrag begleitet ein kleinbürgerliches Paar ins Grosshotel – und auch diese Sequenzen geraten so gut, dass sie schliesslich als Eröffnung in «Die Kur» endgültige Verwendung finden.

Veränderte Literaturverhältnisse

Hingegen berichtet Daniel Kehlmann in seinem Beitrag zum Hotel Waldhaus von einem Autor, der schon wieder «den Fehler» gemacht hat, «etwas zuzusagen». Der Mann steht vor einem Dilemma. «Denn was sollte er tun? Schliesslich war er Leo Richter, bekannter Autor vertrackter Kurzgeschichten und kein Werbetexter.» Kehlmann behilft sich elegant, indem die vermeintliche Absage seines Dichters quasi durch die Hintertüre all das äusserst virtuos wieder hereinschmuggelt, was er am Eingang mit künstlerischer Geste verweigert hat.

Die Stelle erinnert daran, dass Literatur und touristisches Marketing nicht zusammenfallen; aber ebenso gut zeigt sie, dass sie sich auch nicht zwingend ausschliessen. Die Annäherung, die sich zwischen beiden vollzieht, beruht erstens darauf, dass sowohl AutorInnen als auch die Kreativen des Standortmarketings nach Lokalkolorit schürfen und Alleinstellungsmerkmale produzieren, auch wenn sie damit nicht unbedingt dasselbe im Sinn haben. Eine Annäherung findet zweitens in den Arbeitsverhältnissen statt.

Die Schriftstellerei ist zur prekären Fortsetzung einer Kreativwirtschaft geworden, die auch selber immer weniger einen gesicherten bürgerlichen Beruf anbietet und stattdessen immer öfter ein Leben in Projekten. Drittens ist es der gewaltige Aufschwung, den das «Storytelling» genommen hat, wodurch sich zusätzliche Nähe einstellt.

Nicht nur am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel lernt man seit einiger Zeit, Geschichten mit unverwechselbarem Profil zu erzählen. Auch PR-Verantwortliche liefern den Medien längst nicht mehr nur Fakten, sondern gut memorierbare Storymuster: Schlauchboot gegen Walfänger, Unternehmer gegen Bürokratie – und die Marketingabteilungen versehen jeden Käse mit seiner Story. Der Emmentaler ist höhlengereift, und das Rezept des Appenzellers geben die traditionsbewussten OstschweizerInnen nie und nimmer an die Deutschen weiter. Wer hats erfunden? Die AmerikanerInnen, denn die bewahren ihr Coca-Cola-Rezept schon längst in einem Banksafe in Atlanta auf zwecks Reifung einer optimalen Werbestory.

Aber natürlich griffe es zu kurz, sich über die Annäherung von Literatur, Journalismus und Marketing bloss zu mokieren. Literatur musste sich immer am Publikumsgeschmack orientieren, daraus ergibt sich erst die Spannung, die sie zu mehr macht als zur Leseübung fürs literarische Seminar. Zu allen Zeiten begaben sich SchriftstellerInnen in Abhängigkeiten, um sich ihr Leben zu verdienen – und wenn nicht alles täuscht, so ist das für die allermeisten von ihnen in den neuen Verhältnissen nicht weniger prekär geworden.

Zum Beispiel Tim Krohn

In Romanen wie «Quatemberkinder» (1998) oder «Vrenelis Gärtli» (2007) arbeitet Tim Krohn daran, die lokalen Eigenheiten seiner Glarner Herkunft in Sprache und Motivik über die beschränkte Reichweite des Dialekts hinauszutreiben. 2015 veröffentlicht er einen Band mit Geschichten, deren ProtagonistInnen allesamt eines gemeinsam haben: Ein Wellnessaufenthalt im bündnerischen Vals verändert ihr Leben. Ein Paar wird sich trennen, eine Frau entschliesst sich zum Mutterwerden, ein eiliger Manager findet zur Liebe und ein Musiker zum eigenen Ton – was den Geschichten durch dieses vorgegebene Läuterungsmuster an Beweglichkeit abgeht, macht der Autor durch variantenreiches Erzählen und stimmige Details wett. Mit «Nachts in Vals» hat Krohn im damaligen Therme-Hotel auch Zimmerlesungen angeboten – eine Tradition, die er inzwischen an seinem neuen Wohnort Santa Maria weiterführt. Selbst Wanderungen mit ihm können gebucht werden. Dürfen wir also demnächst einen Band Erzählungen aus dem Münstertal erwarten? Krohn winkt ab.

Um einen notwendigen Umbau im Erdgeschoss seines alten Bauernhauses zu finanzieren, hat er sich für sein neustes Buch zum Crowdfunding via Internet entschlossen. Die KäuferInnen konnten eine Gefühlsregung bestimmen, die die zu schreibende Geschichte prägen soll, und zusätzlich drei beliebige Wörter oder Zahlen vorgeben, an denen die Geschichte sich kristallisiert. Auf diese Weise ermöglicht es ihm das Internet, als eine Art Geschichtenunternehmer die Vorfinanzierung seiner schriftstellerischen Tätigkeit selber in die Hand zu nehmen. So ist Krohns Geschichtenroman «Herr Brechbühl sucht eine Katze» entstanden.

Und wieso keine Münstertaler Geschichten? «Übers Glarnerland schrieb ich erst nach meinem Wegzug», erklärt der Autor. «Und der Geschichtenroman spielt in Zürich, wo ich mehr als zwanzig Jahre gewohnt habe.» Die Verortung der Literatur folgt offenbar Gesetzen, die schwierig zu beherrschen sind und verschlungener als der rasche Zugriff auf einen Standort. Vielleicht ist es gerade diese vertiefte Zeitdimension, die sich schliesslich als Aura eines Orts bemerkbar macht? Bis er übers Münstertal schreibe, so Krohn, werde es zumindest «noch einige Jahre dauern – oder es kommt gar nie dazu, da ich nicht im Sinn habe, hier wieder wegzuziehen».

Sabina Altermatt erhielt den Auftrag für ihren Roman «Anna Catrina. Tochter von Ilanz» (2015) von der Anna Catrina AG, einer Gruppe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, «die Bekanntheit von Ilanz nachhaltig zu steigern, um daraus ein wirtschaftliches Wachstum für die Stadt vor einem historischen Hintergrund zu erreichen». Altermatts Aufgabe: die Ilanzer Stadtgeschichte, die von einem HistorikerInnenteam aufgearbeitet wurde, durch eine starke Frauengestalt hindurch «emotional erlebbar zu machen». Zu diesem Zweck erzählt sie die Geschichte einer im 17. Jahrhundert unehelich geborenen Magd, die vergewaltigt und mit Hexenprozessen konfrontiert wird. In einer zwischen unmittelbarem Erleben und historischen Schauplätzen aufgespannten Aschenbrödelgeschichte knüpft Altermatt erzählerische Fäden von den Bauern und Dienstboten über frühfeministische Zirkel bis zur politisch einflussreichsten Ilanzer Familie jener Zeit. «Man soll mit dem Buch durch die Stadt gehen können, da hat sie gearbeitet, da hat sie gewohnt, da ging sie auf den Markt.»

Altermatt, die vom Kriminalroman her kommt, erschliesst sich durch die bezahlte Schreibzeit ein neues Genre: «Ich hätte von mir aus kaum einen historischen Roman geschrieben. Es war eine extreme Ermutigung, dass ich angefragt wurde.» Auf die Bezeichnung «Lokalkolorit» reagiert die Autorin allerdings – wie vor ihr schon Tim Krohn – skeptisch: «Die Ortskenntnis ist bloss ein Supplement.»

Das Stichwort «Supplement» verdeutlicht den fragilen Zusammenhang von Kulturschaffen und Standortmarketing: Filme, Theater, Romane, Geschichten bringen – oft gleichsam nebenher, als «Supplement» – stimmige Verortungen in verschiedenen Mischgraden von Realität und Fiktion hervor. Wo dieses Lokalkolorit vom Supplement zur Hauptsache wird, etabliert sich hingegen leicht eine literarische Arbeitsteilung, die den Bergen das Elementare und Authentische zuweist. Wo verläuft dabei die Grenze zur literarischen Wellness?

Tim Krohn liest in Solothurn aus seinem Roman «Herr Brechbühl sucht eine Katze»: am Fr, 26. Mai 2017, um 10.30 Uhr und 15 Uhr, am Sa, 27. Mai 2017, um 16 Uhr und am So, 28. Mai 2017, um 12 Uhr und 15 Uhr.