Literatur: Was weiss ich über mein Gegenüber?
Bereits die erste Begegnung von Omri und Mor ist von grosser gegenseitiger Anziehung geprägt. Als kurz darauf Mors Ehemann bei einem Unfall ums Leben kommt, ist Omri sofort zur Stelle. Er erlebt, wie sich die Schlinge um Mor langsam zuzieht: War sie mitschuldig am Absturz ihres Mannes auf der sogenannten Strasse des Todes während der Hochzeitsreise in Bolivien? Mor verlangt von Omri eine gefälschte Zeugenaussage – doch mit so viel Loyalität zu der faszinierenden Frau würde dieser seine eigene Freiheit und damit die Beziehung zu seiner kleinen Tochter aufs Spiel setzen.
Die Protagonist:innen im neuen Roman des israelischen Autors Eshkol Nevo verstricken sich in Situationen, die so vertrackt sind, dass sie kaum aufzulösen sind. «Trügerische Anziehung» ist in drei lose miteinander verknüpfte Erzählungen gegliedert, die sich je einem Schicksal widmen, erzählt aus der Ich-Perspektive der jeweiligen Hauptfigur.
Schliesslich wird in jeder Erzählung nach einer Wahrheit gesucht. In der zweiten Geschichte sieht sich ein Oberarzt mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung einer jungen Assistenzärztin konfrontiert. Beim Imbissstand nahe dem Spital stellen die beiden einige verblüffende gemeinsame Vorlieben fest: Brötchen mit Avocado und Feta, roter Grapefruitsaft, der Duft frisch gedruckter Zeitungen. So entwickelt sich eine Beziehung, die nach dem gemeinsamen Besuch in der Privatwohnung des Oberarztes abrupt endet – die Rekonstruktion des Geschehenen bringt ein grosses Geheimnis ans Tageslicht.
Sind die Menschen – neue Bekanntschaften oder auch der langjährige Ehemann wie in der letzten Geschichte – wirklich die, für die wir sie halten? Diese Frage zieht sich durch das Buch. Die Protagonist:innen sind stets bemüht, ihren Nächsten kein Unrecht zu tun, und werden dennoch von den eigenen Zweifeln umgetrieben. Dieses Auf und Ab macht das Buch, das sich teilweise fast wie ein Kriminalroman liest, so aufregend.