Sachbuch: Dissonanzen im linken Spektrum
Was ist «woke», wo sind Teile der Linken falsch abgebogen, und was hat das alles mit dem Postkolonialismus zu tun? Der Popjournalist Jens Balzer und die Philosophin Seyla Benhabib bieten Orientierung in unübersichtlichen Zeiten.
Bis ins Wahlkampfprogramm der SVP hat es der «Woke-Wahnsinn» letzten Herbst geschafft. Auch die Brandreden von NZZ über Donald Trump bis Wladimir Putin kommen kaum ohne Spitzen gegen «die woke Kulturrevolution», «woke Ideologie», «woke Eliten» aus. Im Lärm dieses rechten Sperrfeuers geht unter, was dieses «woke» genau sein soll: eine Bewegung? Eine radikale Gesinnung? Der Untergang des Abendlands? Diese Vagheit ist strategisch – und trägt wesentlich zum Erfolg des Feldzugs bei. Orientierung tut not.
Ein Verdienst des neuen Buchs von Jens Balzer ist es, dass der Berliner Popjournalist darin nachzeichnet, woher der Begriff kommt – und warum er gegen rechte Attacken zu retten wäre. In seinem Essay «After Woke» schlägt er vor, den 1949 verstorbenen Bluessänger Lead Belly, die 1971 geborene Soulqueen Erykah Badu und den heute 95-jährigen deutschen Philosophen Jürgen Habermas zusammenzudenken. Lead Belly warnte 1938 Schwarze vor dem Besuch im rassistischen US-Bundesstaat Alabama – falls man trotzdem dort lande, müsse man wachsam sein: «best stay woke». Dies sei wohl der erste Gebrauch von «woke» im heutigen Sinn, so Balzer.
Erykah Badu wiederum erzählte 2019 in einem Interview: Woke zu bleiben, bedeute, «auf alles zu achten, sich nicht auf das eigene Verständnis oder das eines anderen zu verlassen, zu beobachten, sich weiterzuentwickeln» – und alle hinter sich zu lassen, die sich nicht weiterentwickelten. Darin erkennt Balzer die Diskursethik von Jürgen Habermas wieder und dessen zentrales Konzept eines «herrschaftsfreien Diskurses». Mit Habermas gesprochen, gelte es, «Regeln und Prozeduren aufzustellen, die es allen Menschen ermöglichen, am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen».
Essays für die Hosentasche
Die Definition, auf die Balzer mit diesem kreativ kombinierten Trio kommt: «Woke» bedeute schlicht «Wachheit für gesellschaftliche Diskriminierungen – mit dem Ziel, bestehende Ungerechtigkeiten zu analysieren und zu korrigieren». Balzers Fazit: Es sei durchaus sinnvoll, sich in einem positiven Sinn mit «woke» zu identifizieren. Schliesslich gehe es hier um zentrale linke Anliegen.
Doch gerade in diesem progressiven linken Milieu ortet Balzer heute eine akute Krise der «Wokeness». Wie kann es sein, fragt er polemisch, «dass jemand, der sich selbst als Protagonistin der politischen Emanzipation versteht, keinerlei Mitgefühl mit den Opfern eines Massakers hat?» Teile der Linken hätten sich nach dem mörderischen Überfall und der Geiselnahme der Hamas am 7. Oktober diskreditiert, weil man die Gewalt ohne innezuhalten als Widerstands- und Befreiungsschlag gerechtfertigt und keine Solidarität mit den Opfern gezeigt habe. Balzer spricht drakonisch von einem «moralischen Bankrott», der auch die Legitimität infrage stelle, mit der die Linke zuvor rassistische, homophobe und misogyne Diskriminierung kritisiert habe.
Balzer hat ein Gespür für Themen, die zur linken Zerreissprobe werden. Schon vor drei Jahren rückte er die eskalierende Debatte um kulturelle Aneignung zurecht. «Ethik der Appropriation» nannte er sein ebenfalls in der Reihe «Fröhliche Wissenschaft» erschienenes Bändchen. Es bot ein alltagstaugliches Argumentarium im Zeichen der Vernunft: Ohne Aneignungen gibt es keine Musik, keine Mode – keine Kultur; «Echtheit» und «Reinheit» sind Trugbilder; Machtgefälle müssen aber selbstverständlich stets mitbedacht werden.
Die Kehrseite von Balzers Essays, die in jede Hosentasche passen, sind gewisse Vereinfachungen und Abkürzungen. Dazu gehört etwa seine allzu penible Unterscheidung zwischen «falschen» und «richtigen» Appropriationen. In «After Woke» repetiert Balzer den Vorwurf des moralischen Bankrotts insgesamt zwölfmal. Da hätte auch ein Lektorat eingreifen müssen. Ausserdem muss sich Balzer die Frage gefallen lassen, ob seine Diagnose eines «selektiven Humanismus» in der Linken nicht auch auf ihn selbst zutrifft: Der Blutzoll und «das Leid» der Palästinenser:innen, wie er es ein einziges Mal sehr unbestimmt nennt, bleiben in seiner Darstellung weitgehend ausgespart.
Neben dieser nicht schönzuredenden Lücke: viel Treffendes, gerade auch, was diesen selektiven linken Humanismus angeht. Balzer erkennt zu Recht eine «kognitive Dissonanz» zwischen der seit Jahren eingeforderten Sensibilität für Mikroaggressionen, Triggerwarnungen oder korrekte Pronomen und dem im letzten Oktober gezeigten, teils eklatanten Mangel an Mitgefühl und Solidarität mit den jüdischen Opfern des Massakers. Schon kurz nach der exzessiven Gewalt wurden relativierende Kontextualisierungen vorgebracht. Die von den Tätern selbst dokumentierte sexuelle Gewalt wurde infrage gestellt, sogar von namhaften Feministinnen.
Bizarre Erlösungsfantasie
Diese Dissonanz erklärt Balzer mit Schwarzweissdenken, mit der Einteilung der Menschen in Opfer und Täter:innen. Eine solche beschränkte Wahrnehmung betrachte Jüdinnen und Juden als «weiss» und damit automatisch als «privilegiert». In diesem Schema ohne Widersprüche oder Nuancen können sie keine Opfer sein, sondern haben die Gewalt quasi selbst provoziert. Hinzu kommt gemäss Balzer eine fehlgeleitete Interpretation von Postkolonialismus als absolutem «Wahrheitsregime», das jüdische Menschen ohne Umschweife auf die «Seite der Unterdrücker und Kolonialisten» stelle.
Parallel dazu sieht Balzer seit der Jahrtausendwende eine «Faszination für Erzählungen von Ursprünglichkeit», eine «Konjunktur des ‹Indigenen›», die sich heute etwa in der Idealisierung des palästinensischen Volkes seitens mancher Aktivist:innen zeigt. Der Kampf der Palästinenser:innen gegen den israelischen Staat werde zu einem «symbolisch hoch aufgeladenen Kampf eines indigenen, ‹authentischen›, ‹unentfremdeten› Volks gegen eine unauthentische, von der Natur entfremdete kolonialistische Macht umgedeutet», so Balzer. Diese Sichtweise gipfle im verbreiteten Slogan «Wenn Palästina frei ist, dann werden wir alle frei sein». Eine bizarre Erlösungsfantasie.
Zugleich verteidigt Balzer die Postcolonial Studies gegen die Vereinfacher:innen, die aus dieser Forschungsrichtung mit ganz unterschiedlichen Akteur:innen eine geschlossene Weltanschauung namens «Postkolonialismus» konstruieren. Auch gegen rechte und übereifrige linke Attacken, die nun «postkolonial» synonym mit «antisemitisch» verwenden, hat er ein Argument zur Hand: Nur weil sich Exponent:innen der Germanistik im Nationalsozialismus schwer kompromittiert hätten, sei es auch niemandem in den Sinn gekommen, die Germanistik pauschal als eine antisemitische Wissenschaft zu diskreditieren.
Die Ideale retten
Auch Seyla Benhabib gab kürzlich wertvolle Hinweise, wie und warum die postkoloniale Theorie zu verteidigen sei. In einem Interview im Magazin «NZZ Geschichte» übte die emeritierte Professorin für Politische Theorie und Philosophie scharfe Kritik an der deutschen Debatte zum Postkolonialismus: «Jede politische Stellungnahme, die einem nicht passt», werde heute abwertend «als ‹postkolonial› bezeichnet». Dabei gehe es im Postkolonialismus doch schlicht darum, «die abendländische Moderne in einem globalen Kontext zu verstehen». Die europäische Aufklärung feierte die Ideale von Freiheit und Gleichheit, während europäische Kolonialmächte zeitgleich einen brutalen Unterwerfungsfeldzug durchführten. Diese notwendige Erkenntniserweiterung bedeute aber wiederum nicht, dass die Aufklärung nun einfach ausgedient habe. Vielmehr brauche es eine «Rekonstruktion» ihrer Ideale.
Auch die linke Rede von einem «antikolonialen Kampf» gegen Israel hält Benhabib für ungenau. Einige Sichtweisen der postkolonialen Theorie seien «unzulänglich» – aber deswegen nicht gleich antisemitisch. Statt simple Labels zu verteilen, müsse man «tief genug» in die Geschichte blicken. Die Uniproteste bezeichnet Benhabib als «total gerechtfertigt» – wenngleich inhaltlich teils problematisch. Auf wenigen Seiten Interview erweitert sie so Balzers etwas eingleisige Diagnose eines moralischen Bankrotts der Linken zu einer lebenserfahrenen Lektion in differenziertem Denken, die auch besagt: Manche Widersprüche sind auszuhalten, nicht aufzulösen.
Jens Balzer: «After Woke». Sachbuch. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2024. 105 Seiten. 19 Franken.
«In dieser Debatte geht alles schief», Seyla Benhabib im Interview mit Claudia Mäder in: «NZZ Geschichte», Nr. 53, Juli 2024.