Kulturelle Aneignung: Der Kritiker als Schiedsrichter
Der Popjournalist Jens Balzer hat eine «Ethik der Appropriation» verfasst. Das Buch ist verdienstvoll, aber am Schluss glaubt der Autor der von ihm gefeierten Hybridität selber doch nicht.
«Es gibt von rechts ein sehr grosses Interesse daran, Debatten um kulturelle Aneignung als Verirrung der völlig durchdrehenden Linken darzustellen. Dagegen müssen diese Debatten unbedingt verteidigt werden!» Dies sagt der Berliner Popkritiker Jens Balzer. Kulturelle Aneignung ist Terrain des Kulturkampfs, den Konservative wie Rechtspopulist:innen ausgiebig befeuern, zumal der Nachschub an mehr oder weniger grotesken Schnapsideen von der anderen Seite, aus dem heterogenen Lager der woken Aktivismen, nicht ausbleibt. In seinem Buch «Ethik der Appropriation» weist Balzer nach, dass die überspitzte und verzerrte Darstellung von Kritik an kultureller Aneignung interessengeleitet ist. Das Zerrbild einer verbohrt-fanatischen linken «Cancel Culture» dient Rechten als dankbare Zielscheibe, wie etwa die vom Boulevardblatt «Bild» befeuerte Kampagne zur Rettung von Winnetou zeigt.
Dabei gibt es gute Gründe, kulturelle Appropriationen zu kritisieren. Balzer belegt die vielfältige «Verschränkung aus kultureller An- und Enteignung» im Pop, die dazu geführt hat, dass Elvis Presley oder Eric Clapton als historische Profiteure dastehen: Der eine wird «King of Rock ’n’ Roll», der andere «King of the Blues», weisse Musiker, die Schwarze Musik auf den weissen, strukturell rassistischen Markt tragen und damit x-mal so viel Geld verdienen wie ihre Schwarzen Vorläufer:innen und Vorbilder. Balzer: «Elvis Presley verdankt seine ganze Musik dem schwarzen Rock ’n’ Roll, und dennoch rühmt er sich in den 1970er Jahren der Freundschaft mit dem US-Präsidenten Richard Nixon, der die Bürgerrechtsbewegung der Black Panther mit allen legalen und illegalen Mitteln zu zerschlagen versuchte.»
Fluidere Identität
Balzer nimmt andererseits auch die allzu statischen, mitunter biologistischen Konzepte von Identität auseinander, die der (vulgär-)linken Kritik an kultureller Aneignung oftmals zugrunde liegen. Gegen schematische wie essenzialistische Auslegungen der Aneignungskritik und die damit einhergehenden Reinheitsgebote beruft sich Balzer auf einschlägige Verfechter des Hybriden, der Heterogenität, der Vermischung, der Dekonstruktion: auf Gilles Deleuze, Judith Butler, den karibisch-britischen Autor Paul Gilroy («The Black Atlantic») und auf den postkolonialen Theoretiker Édouard Glissant (vgl. «Denker der All-Welt»). Dessen Begriff der Kreolisierung adaptiert Balzer für ein fluideres Identitätsverständnis: «Der Begriff ‹kreolisch› fasst kulturelle Identität als geprägt von einer Kultur, die durch die unablässige Vermischung der verschiedensten Einflüsse und Traditionslinien entsteht. Diese Kultur der ‹Mestizen› steht jeder Idee einer kulturellen Reinheit und auch jeder Idee homogener kultureller Traditionen entgegen, die sich einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zuordnen lassen. Das stimmt für den Hip-Hop, […] aber Glissant geht noch weiter. Schon der Jazz ist für ihn nicht ‹schwarz›, sondern kreolisch.» Der Jazz ist für Glissant eine Kreuzung – eine Kreolisierung – afrikanischer Rhythmik und westlicher Instrumente wie Saxofon, Geige, Klavier oder Posaune.
Kein Pop also ohne Zitat, Sampling, Vermischung, ohne Aneignung. Balzers Fazit leuchtet ein – bis er sein Hauptanliegen formuliert: «Die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Appropriationen.» Plötzlich schwingt sich der erklärte Fan des Hybriden zum Oberschiedsrichter auf, mit hehren antirassistischen Motiven: hier die gute Aneignung, in der Regel die «Counter-Appropriation», die «Gegen-Aneignung» von ausgebeuteten Schwarzen Acts; dort die schlechte Aneignung, in der Regel von ausbeutenden Weissen. Als würde Balzer der von ihm gefeierten Hybridität, dem uneindeutig Schillernden, doch nicht so ganz über den Weg trauen, propagiert er ein übersichtliches, manichäisches Weltbild, in dem sich die gute von der bösen Appropriation sauber unterscheiden lässt.
Wer profitiert von wem?
Dabei stimmt sie doch selten, die Standardformel «Aneignung gleich Enteignung», vielmehr müssen in jedem Einzelfall Ambivalenzen berücksichtigt werden, muss abgewogen werden, was überwiegt: die Ausbeutung des Appropriierten oder dessen Sichtbarmachung? Beutet beispielsweise Beyoncé ihre verstorbene Kollegin Donna Summer aus, wenn sie deren Discomonolith «I Feel Love» sampelt, zitiert, appropriiert und den Song auch noch «Summer Renaissance» tauft? Oder profitieren Summers Nachkommen von dieser Aneignung?
Keine weisse Band hat so viel Geld mit dem Ausschlachten Schwarzer Musiken verdient wie die Rolling Stones, diese R&B-Coverband, so neulich Paul McCartney mit einer eleganten Spitze. Aber zugleich waren es die Stones, die darauf bestanden, dass ihre Schwarzen Idole mit ihnen in TV-Shows auftraten, und die dem Bluesveteranen Howlin’ Wolf mit ihrem Album «London Sessions» eine Plattform boten. Es bleibt ambivalent. Das spürbare Unbehagen des Kritikers an dieser Ambivalenz ist der wunde Punkt seiner ansonsten verdienstvollen «Ethik der Appropriation».
Jens Balzer: «Ethik der Appropriation». Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2022. 87 Seiten. 16 Franken.