Terror und Prävention: Eine Debatte entgleist
Nur wenige Stunden waren seit dem Anschlag vergangen, da hatte man sich diskursiv schon längst verrannt. Letzten Freitag erstach ein 26-Jähriger im deutschen Solingen drei Menschen bei einem Strassenfest, verletzte acht weitere teilweise schwer. 2022 via Bulgarien ins Land gekommen, entzog sich der syrische Geflüchtete einer Ausschaffung und erhielt eine vorläufige Aufnahme. Noch bevor er sich später den Behörden stellte, hatte die Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) den Angriff für sich reklamiert.
Terror entfaltet seine verheerende Wirkung über die Tat hinaus erst, wenn er erfolgreich Angst und Hass verbreitet, die betroffene Gesellschaft seiner heimtückischen Logik verfällt. Nach Solingen ist das einmal mehr der Fall. Auf Schock, Trauer, Solidarität folgte rasch der Ruf nach mehr Repression, einer noch härteren Flüchtlingspolitik. Migration, Messer, Islam: Eine Verschärfungsforderung jagt seither atemlos die andere, eine Scheindebatte löst die nächste ab. Mit Assad und den Taliban verhandeln? Tabus dürfe es «keine geben», krakeelte Friedrich Merz, da kämpften in Solingen Verletzte noch um ihr Leben. Mit dem eigentlichen Thema hat das alles nichts mehr zu tun.
Sekundiert wurde der CDU-Hardliner von Vertreter:innen der Regierungskoalition und einer lautstarken Sahra Wagenknecht auf Wähler:innenfang, die das Attentat allesamt ungeniert instrumentalisierten. Am Wochenende stehen in Deutschland zwei Landtagswahlen an, bei denen der AfD ein Triumph sicher scheint. Aus Furcht vor der extremen Rechten lässt sich die sogenannte Mitte einmal mehr vor den Repressionskarren spannen. Gegen Terror werden die geplanten Massnahmen allerdings nicht helfen.
Die Messerattacke auf einen religiösen Juden im März in Zürich, der verhinderte Anschlag auf ein Taylor-Swift-Konzert in Wien, jetzt Solingen. Seit Anfang Jahr seien europaweit dreissig Personen unter Terrorverdacht festgenommen worden, gab der Schweizer Nachrichtendienstchef Christian Dussey dieser Tage bekannt, die meisten noch minderjährig. Auch viele Expert:innen warnen vor der gestiegenen Gefahr durch Jugendliche, die sich online radikalisierten. Den Weg dorthin beschrieb der Extremismusforscher Peter Neumann so: Auf Tiktok oder Instagram kämen (im Alltag oft marginalisierte) junge Leute mit dschihadistischer Propaganda in Kontakt, von dort landeten sie später in geschlossenen Chatgruppen, manche von ihnen schritten dann zur Tat. Mehr als Ideologie spielen dabei Zugehörigkeit und Anerkennung eine Rolle.
Umso wichtiger ist es, dem IS zuvorzukommen. Also darauf hinzuarbeiten, dass sich verunsicherte junge Leute verfänglichen Narrativen verweigern – und den Extremisten so den Nachwuchs zu entziehen. Die entsprechenden Präventionsprogramme existieren auch in der Schweiz schon lange: Sozialarbeit, Beratungsangebote für betroffene Familien oder die Sensibilisierung von Lehrpersonen. So simple wie wirksame Rezepte, die Perspektiven öffnen, statt nach immer mehr Repression zu rufen.
Untergegangen ist in den letzten Tagen aber auch noch eine andere Erkenntnis: dass Dschihadismus auch einer verfehlten Aussenpolitik entspringt. Beispielhaft zeigt sich das am Umgang mit den Kurd:innen, deren Kampf mit dem IS in Nordostsyrien noch immer das wirksamste Bollwerk gegen Islamismus war.
Die Taktik europäischer Staaten ist dabei so perfide wie kurzsichtig: Um sich Geflüchtete vom Leib zu halten, hofieren sie Recep Tayyip Erdoğan mit Millionen – und ignorieren, wie der türkische Machthaber kurdische Städte bombardiert und Islamisten unterstützt. Überdies lässt Europa die Kurd:innen allein mit den IS-Gefangenen, die sich seit Jahren in deren Lagern befinden. Dass man nicht einmal die Schweizer Bürger:innen zurücknehme, hat auch der Bund immer wieder betont. Der eigene Beitrag zur Radikalisierung – es könnte ein aufschlussreiches Debattenthema sein.
Stattdessen meint man bloss, den Terror fernhalten zu können, indem man die Grenzen für die vielen Menschen schliesst, die in Europa Schutz suchen. Auch und gerade vor dem Terror.