Antiterrorkampf: Die Strategie der tausend Nadelstiche
Nach den neuerlichen islamistischen Anschlägen ruft die Politik nach mehr Repression. Dabei sind sich die ExpertInnen einig: Wer dem Terrorismus entgegenwirken will, muss vor der Radikalisierung ansetzen.
Die Bilanz ist verheerend: In Europa sind in den letzten Wochen neun Menschen dem islamistischen Terror zum Opfer gefallen, zwei Dutzend weitere wurden teilweise schwer verletzt, in Dresden und Paris, Nizza und Wien. Wertet man auch die Messerattacke im waadtländischen Morges Mitte September als «mutmasslich ersten Terroranschlag mit dschihadistischem Motiv in der Schweiz», wie dies der Nachrichtendienst des Bundes in seinem neusten Lagebericht tut, steigt die Zahl der Toten auf zehn. Auch bei der Gewalttat einer Frau in Lugano von diesem Dienstag vermutet die Polizei einen terroristischen Hintergrund.
Über drei Jahre ist es nun her, dass eine Militärkoalition dem Pseudostaat der Terrorgruppe Islamischer Staat ein Ende bereitete und diese damit bedeutend schwächte. Die Zahl der Anschläge, die mit dem IS und seinen AnhängerInnen in Verbindung gebracht werden, hat in der Folge abgenommen. Bis jetzt. Wie lässt sich diese neue Welle bekämpfen, die der französische Soziologe Gilles Kepel «atmosphärischen Dschihadismus» nennt?
Schweiz am schärfsten
Was an politischen Verlautbarungen bisher bekannt ist, lässt jedenfalls eher auf ein «Weiter so» schliessen: mehr Repression, mehr Macht für die Sicherheitsbehörden. In Österreich hat die Regierung ein Paket geschnürt, das den «politischen Islam» – was auch immer darunter zu verstehen ist – pauschal kriminalisiert und neue Überwachungsmöglichkeiten schafft. Und in Frankreich fordert Präsident Emmanuel Macron die Aufrüstung der Schengen-Aussengrenzen. Was das gegen den Terror helfen soll, wenn die TäterInnen in Europa geboren und aufgewachsen sind, bleibt sein Geheimnis.
Die Schweiz entwickelte sich derweil schon vor den neuerlichen Anschlägen weiter in Richtung Law and Order: Ende September hat das Parlament das wohl härteste Antiterrorgesetz Europas verabschiedet.
Mit anderen Worten: Sicherheitsbehörden und bürgerliche PolitikerInnen fordern immer mehr Möglichkeiten, um Personen, die sie für gefährlich halten, überwachen zu können. Dabei wäre etwas anderes viel wichtiger: darauf hinzuarbeiten, dass sich junge Leute gar nicht erst radikalisieren.
Das Tempo zählt
«Ultimatives Ziel ist es, schneller zu sein: junge Leute an sich zu binden, bevor die Extremisten die Gelegenheit dazu bekommen»: Auf diese Formel hat der Terrorexperte Peter Neumann vor einigen Jahren das Wesen der Präventionsarbeit gebracht. Eine Aussage, die Thomas Mücke unterschreiben würde. Der Pädagoge ist Geschäftsführer des deutschen Violence Prevention Network (VPN), das seit über fünfzehn Jahren und mit mittlerweile über hundert MitarbeiterInnen versucht, der Radikalisierung von Jugendlichen entgegenzuwirken. Seine Arbeit nennt Mücke eine «Strategie der tausend Nadelstiche»; die radikale Szene schwächen, indem man ihr den Nachwuchs entzieht.
Salafisten wie Rechtsradikale versuchten verunsicherte junge Leute emotional an sich zu binden, ihnen einfache Antworten auf komplexe Fragen zu geben, sagt der 62-Jährige. «Indem wir proaktiv auf sie zugehen und sie intensiv begleiten, versuchen wir sie daran zu hindern, diesen Narrativen hinterherzulaufen. Stattdessen regen wir sie zu selbstständigem Denken an.» Wichtig sei vor allem, die Ursachen für das Verhalten der Jugendlichen zu ergründen.
Über die Jahre hat sich dieser Ansatz international etabliert, Programme wie jenes des VPN finden sich in vielen europäischen Ländern. Auch die Schweiz kennt mit dem «Nationalen Aktionsplan» (NAP) über zwei Dutzend präventive Massnahmen – von klassischer Sozialarbeit und der Sensibilisierung von Lehrpersonen bis zu «Gefährderansprachen». Inzwischen gibt es in mehreren Kantonen und Gemeinden Beratungsangebote für sich radikalisierende Jugendliche und deren Familien.
Gegen die Stigmatisierung
Zur Antiterrorstrategie der Schweiz gehören aber auch die Verschärfung des Strafrechts und das Nachrichtendienstgesetz. Und eben das im September verabschiedete Polizeigesetz PMT, das unter anderem Kontaktverbote und Ausreisesperren und als härtestes Mittel Hausarrest für «Gefährder» vorsieht.
Der Kriminologe Ahmed Ajil doktoriert an der Universität Lausanne zu politisch-ideologischer Mobilisierung und Gewalt und hat dafür auch mit ehemaligen Mitgliedern und Sympathisanten des IS oder von al-Kaida gesprochen. Ajil kennt sich also bestens mit dem Thema Radikalisierung aus, aber auch mit der Frage, was dagegen hilft.
Bei Prävention wie Reintegration gehe es darum, «mit den Betroffenen zusammenzuarbeiten und nicht gegen sie», sagt er. Damit stehe dieser Ansatz in diametraler Opposition zur Repression, die auf der Konstruktion von «Staatsfeinden» basiere. Denn wer sich mit repressiver Behandlung und der Stigmatisierung als «Gefährder» konfrontiert sehe – oft wegen eines Facebook-Posts und ohne dass man ihm gewalttätige Absichten nachweisen könne –, entwickle erst recht Groll gegenüber einem Staat, der die Menschenrechte für sich reklamiere.
Für Ajil ist klar: Mit dem PMT gerät die Schweiz vollends in Widerspruch zu ihren eigenen Präventions- und Wiedereingliederungsmassnahmen.
Dass mehr polizeiliche Massnahmen nicht die Lösung seien, habe auch die Messerattacke von Morges gezeigt, glaubt Ajil. Weil der Täter sich bereits in einem Strafverfahren befand, hätten die Behörden sogar mehr Instrumente zur Verfügung gehabt, als die PMT erlauben würden. «Der Fall ist ein Hinweis, dass präventive Repression nichts bringt, wenn man keine gute sozialpädagogische Begleitung für die Person organisiert.»
Glaube nicht entscheidend
Wie aber lässt sich verhindern, dass eine aus dem Gefängnis entlassene Person einen Anschlag begeht, wie dies etwa beim Attentäter von Wien der Fall war? «Eine hundertprozentige Sicherheit kann es gar nicht geben», sagt VPN-Chef Thomas Mücke. «Jede Massnahme schafft zwar eine bestimmte Sicherheit, aber möglicherweise auch ein neues Risiko.» Entziehe man etwa einem Islamisten die Staatsbürgerschaft, wie die Schweiz dies in der Vergangenheit schon getan hat, entledige man sich zwar der Person, doch zugleich steige das Risiko, dass sie sich im Ausland einer Terrororganisation anschliesse und später Anschläge verübe.
Neben der Präventionsarbeit leistet das VPN auch Ausstiegshilfe für radikalisierte Personen – und das mit Erfolg, wie Mücke sagt. Viele, die etwa aus dem syrischen Bürgerkrieg wiedergekommen seien, hätten sich relativ gut wieder in die Gesellschaft integriert. Am wichtigsten sei, dass man den Personen die Rückkehr zu einem stabilen sozialen Umfeld ermögliche. «Wir wollen Brückenbauer zur Gesellschaft sein.»
Viele ExpertInnen sind sich denn auch einig: Den meisten Jugendlichen geht es mehr um Zugehörigkeit und Anerkennung als um Religion oder Ideologie. Nützlich ist diese Erkenntnis auch für Prävention und Bewährungshilfe. «Meine Erfahrung ist, dass diese Leute sich nicht grundsätzlich von anderen unterscheiden, die Unterstützung benötigen», ergänzt Kriminologe Ajil. In den meisten Fällen müsse man gar nicht primär gegen irgendeine Ideologisierung ankämpfen; oft sei es zielführender, zuerst bei der Wohnungs- und Jobsuche zu helfen – und eine Perspektive zu bieten.