Essay: Gegen die grosse Konsenssause

Nr. 37 –

Würde man mehr «mit Rechten reden», würde schon alles gut – eine nicht nur in Deutschland verbreitete wie falsche Hoffnung. Stattdessen braucht der demokratische Diskurs mehr Differenz.

Abgerissene Plakate in Bad Belzig, Brandenburg
Was also ist zu tun? Abgerissene Plakate in Bad Belzig, Brandenburg. Foto: Steinach, Imago

Die Krise der liberalen Demokratie ist auch eine Krise der Art und Weise, wie Politik definiert und beschrieben wird. Gerade unter dem andauernden Rechtsruck oder Rechtsdruck, wie wir ihn in ganz Europa und womöglich bald wieder in den USA sehen und gerade erst bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen erlebten, zeigt sich eine Antwort, die so verbreitet wie einfach und falsch ist: Wir müssen aufeinander zugehen, einander verstehen, einander zuhören.

Dann werde schon alles gut, so die Hoffnung. Es ist alles womöglich nur ein Missverständnis. Die Konflikte, die spalten, die Differenzen, die prägen, die Interessenunterschiede, die andere Weltsicht, letztlich sogar der Rassismus, der sich in diesen Momenten zeigt – alles nur ein Versehen. Wenn wir nur mehr «mit Rechten reden», wie es vor ein paar Jahren hiess, werde die Vernunft sich schon durchsetzen – und die Gesellschaft wieder zu dem werden, was sie nie war: ein konsensualer Haufen.

Es ist ein falsches Bild, das nun schon lange das Nachdenken und das Reden über Demokratie prägt – und sich in einem grossen Angstwort findet: der «Polarisierung». Die Spaltung der Gesellschaft in Lager, die verschiedene Welten zu bewohnen scheinen und verschiedene Wahrheiten hochhalten, so heisst es, sei die eigentliche Malaise. Nicht die Gründe für diese Spaltung also, die wachsende Ungerechtigkeit, der ausser Kontrolle geratene Klimawandel, technologische Disruption – nein, die Spaltung als Spaltung ist das Problem.

Bündnisse für Fortschrittsfragen

Die Analyse der Verhältnisse verharrt damit auf dem Level der Tautologie – und das durchaus beabsichtigt. Es ist ja leichter, die Polarisierung zu bejammern, als die dafür womöglich verantwortlichen Probleme anzugehen. Diese Rhetorik führt damit die Entpolitisierung der Politik fort, die wir schon seit Jahren und Jahrzehnten erleben, im Grunde spätestens seit den neunziger Jahren, als es hiess, dass links und rechts keine Kategorien politischen Denkens mehr seien, jedenfalls keine relevanten.

Wenn man aber so auf Politik und Demokratie schaut, die ja eigentlich eine Art Konfliktlösungsmaschine ist, die den Konflikt braucht, um lebendig zu bleiben, machen grundsätzlich unterschiedliche Haltungen eher Angst. Diese Differenzen nicht zu benennen, zu betonen, auszuhalten, sondern wegzudrücken, zu übertünchen, zu verharmlosen, führt dazu, der Demokratie ihre Energie zu nehmen: Sie wird zu einer Vollzugsmaschine, die gesellschaftliche Konflikte wegmoderieren soll.

Und das ist ja nicht ganz falsch. Konflikt um des Konflikts willen kann auch nicht das demokratische Ideal sein. So aber ist momentan die Politik in den allermeisten Demokratien strukturiert: Regierung und Opposition stehen sich symbolisch gegenüber, inhaltliche Überschneidungen können nicht zum Tragen kommen, politische Unterschiede müssen betont werden, was zu einer ideologischen Verhärtung führt und pragmatische oder einfach richtige Lösungen verhindert.

Dabei zeigen immer wieder Studien zu sogenannten Supermehrheiten, wie es der US-amerikanische Rechtsprofessor Tim Wu nennt, dass es breite gesellschaftliche Bündnisse gibt für bestimmte grundlegende Fortschrittsfragen innerhalb einer Gesellschaft. Wu hat das vor ein paar Jahren für die USA untersucht und lagerübergreifende Allianzen festgestellt, etwa bei Fragen wie Abtreibung (pro), Waffenbesitz (kontra), Klimawandel (etwas tun). In der politischen Architektur allerdings spiegeln sich diese inhaltlichen Allianzen nicht, sie haben keinen Raum – auch das führt dazu, dass das demokratische System, strukturiert vor allem durch Wahlen, als dysfunktional wahrgenommen wird.

Tatsächlich geht es also, auch um die Demokratie mit Leben und Energie zu versorgen, nicht darum, Konflikte und Differenzen zu vermeiden – sondern darum, die richtigen Konflikte zu benennen und auszutragen und die Differenzen dort zu betonen, wo es um grundlegende Fragen unserer Gegenwart und Zukunft geht. Denn zurzeit führt die grosse Konsenssause ja dazu, dass sich die Rechten mit ihren politischen Inhalten und Forderungen praktisch ungebremst durchsetzen können und sich, etwa in Deutschland, alle Parteien darin überbieten, wer schneller Ausländer:innen abschiebt.

Inhaltlich bedeutet das, dass der Konflikt, der hier deutlich wird – wie man mit Migration umgeht, mit Einwanderung, mit der Veränderung der Gesellschaft, mit Humanität auch und mit Menschenrechten –, wie so vieles externalisiert wird: Statt den Konflikt bei uns auszutragen, verschieben wir ihn lieber – so wie die Externalitäten der Wirtschaft, die den Klimawandel beschleunigt haben – in andere Teile der Welt, sollen die sich doch damit rumschlagen. Der Konflikt aber, der so gelöst werden soll, verbleibt in der Gesellschaft als ungelöste Frage und demokratische Drift.

Anders gesagt: Bestimmte Konflikte müssen ausgetragen werden, sonst hat das eine demokratische Regression zur Folge. Bestimmte Kämpfe, um ein Wort aus einer anderen politischen Zeit zu verwenden, müssen geführt werden, weil sich sonst immer die Seite durchsetzt, die mit mehr Macht oder Geld oder einfach herzloser Brutalität ausgestattet ist. Historisch gesehen hat es gesellschaftlichen Fortschritt immer nur durch die Kämpfe gegeben. Doch in der gegenwärtigen Druckphase der Demokratie erleben wir, wie Konfliktvermeidung genau dazu führt, dass Stück für Stück demokratische Prinzipien aufgegeben werden.

Was also ist zu tun? In gewisser Weise müssen wir, denke ich, neu lernen, was Konflikte sind, wie wir sie führen, dass sie nicht schlecht sind, sondern essenziell für eine lebendige Demokratie. Dazu brauchen wir andere Formen und Foren demokratischer Praxis als Wahlen. In gewisser Weise verunklaren diese die Differenzen, weil sie anhand einer bestimmten Parteilogik ganze Pakete von Problemen schnüren, wobei die Schärfe und die Relevanz der einzelnen Fragen verloren gehen. Und auch Bürger:innenräte, die oft – und oft zu Recht – als Alternative oder Ergänzung zur parlamentarischen Demokratie gesehen werden, sind vor allem für Probleme geeignet, die konsensual zu lösen sind.

Für eine digitale Utopie

Ein Anfang wäre schon mal, zu sehen, dass das gegenwärtige Narrativ von Demokratie, medial wie politisch, zu simpel ist, schematisch, reduktionistisch. Gleiches gilt für die demokratische Architektur, die extrem beschränkt ist auf diskursive und deliberative Elemente aus einer ganz anderen und in vielem vortechnologischen Zeit. Dabei gibt es ja, auch dank der digitalen Revolution, ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten, um jenseits der etablierten Medien oder Parteien Argumente zu schärfen, Prinzipien zu vertreten, für die Zukunft zu streiten.

Vom Geist her knüpft hier manches an ein Politikverständnis der sechziger Jahre an, als die Rolle der Zivilgesellschaft viel zentraler war als heute – Demokratie also, die sich durch Bürger:innenbewegungen veränderte, Emanzipation, die auf der Strasse erstritten wurde. Die Klimabewegung hat es bis zu einem gewissen Grad und mit verschiedenen Formen (und unterschiedlichem Erfolg) versucht, von inklusiv und friedlich wie Fridays for Future bis zur Disruption und dem gezielten Gesetzesbruch in der Praxis der Letzten Generation.

Eigentlich aber geht eine digitale Utopie, die immer noch möglich ist, trotz oder wegen der Monopolisten wie Facebook und der Zerstörung von Twitter durch Elon Musk, noch sehr viel weiter: Der Austausch von Meinungen, der Streit über Prinzipien, die Suche nach Lösungen können hier – durch Podcasts, Newsletter, direkte Meinungs­äusserungen und vieles mehr – sehr viel dynamischer stattfinden. Es ist, im Idealfall, eine diskursive Demokratie möglich, die nicht primär die Institutionen und Mechanismen der parlamentarischen Demokratie braucht.

Veränderungen kann und wird es auch innerhalb dieser parlamentarischen Demokratie geben – verschiedene Mehrheiten, weniger Lagerdenken und dabei auch mehr Klarheit und Konflikte in der Sache, weniger Kalkül und Risikoscheu. Der brasilianische Philosoph Roberto Mangabeira Unger hat all das mit dem Begriff der «high-energy democracy» beschrieben. Es ist ein Weg, die Demokratie zu demokratisieren, indem wir sie für Konflikte öffnen. Oder, um den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt zu paraphrasieren: Es geht darum, mehr Differenz zu wagen.

Georg Diez (55) war Kolumnist beim «Spiegel» und ist heute Fellow der Max-Planck-Gesellschaft und Senior Advisor von Project Together, wo er sich mit Themen der demokratischen Innovation beschäftigt.