Licht im Tunnel: Generation Käfer
Michelle Steinbeck über eine erstaunliche Ikone der Jugend

Als ich kürzlich müssig am Rheinufer spazierte, lag auf einer Bank ein einsamer Kommunist. Ich fasste mir ein Herz und nahm ihn, trotz seiner wenig ansprechenden Aufmachung, aus Interesse und Neugier mit. Nach mehreren Seiten voll des stumpfdumpfen Mantras, alle Probleme der Welt wären durch eine Diktatur des Proletariats gelöst, inklusive und vor allem der Nahostkonflikt, fand ich einen interessanten Artikel über Franz Kafka und die Generation Z. Die Geschichte ist schnell zusammengefasst: Gen Z liebt Kafka. Und weil er den Gemütszustand der entfremdeten, vereinsamten, vom Spätkapitalismus misshandelten Generation so gut einfangen kann, errichtet sie ihm einen digitalen Schrein: #kafka.
So stiess ich, im Jahr 2024, in einer in vielerlei Hinsicht altertümlich anmutenden Printzeitschrift (der «Kommunist» gendert nicht!), ausgerechnet auf ein Tiktok-Phänomen. Und weil dieses Jahr Kafka-Jahr ist, wage ich nun hier eine Erzählform, die ähnlich unbeliebt und umstritten ist wie das (von mir und Kafka heiss geliebte) Was-ich-heute-geträumt-habe-Erzählen, nämlich das Meme-Nacherzählen.
Die einfachen Kafka-Memes funktionieren auf der Basis von zwei Schwarzweissbildern: ein Foto vom jungen Franz oder eine alte Illustration von seiner «Verwandlung». Der Käfer liegt auf dem Rücken im Bett, die Beinchen in die Luft gestreckt. Über dem Porträt von Kafka stehen Sprüche wie: «He gets me» (Er versteht mich), und über dem Bild des Käfers: «He’s literally goals» (etwa: Mein grösstes Vorbild). Und das meinen sie wirklich: Kafka trifft den Nerv – und den Humor – der Gen Z, sie identifiziert sich mit ihm als Mensch genauso wie mit dem Käfer. Auch mir gefiel Kafka in der öden Gymnasialzeit sehr gut, aber die sogenannt heutige Jugend, aufgewachsen zwischen Bullshitjobs und Burn-out, in Finanzkrise und Pandemie, scheint sich in der bedrohlichen Aussichtslosigkeit der Kafka-Welten geradezu heimisch zu fühlen.
Viele Memes holen den Käfer mühelos in die heutige Zeit, indem er etwa ein Smartphone vors Gesicht bekommt, auf dem gerade die Linkedin-App geöffnet wird oder der Chef anruft: «Das klingt wirklich schlimm, aber wir haben gerade Personalmangel …» Die Ansage ist klar: Heute müsste Gregor Samsa, der Protagonist von «Die Verwandlung», zur Arbeit, Käfer hin oder her. Vom Zwang, ständig performen zu müssen, auch wenn es einem beschissen geht, zeugt etwa auch der Meme-Klassiker «Instagram vs. Real Life», der das Kafka-Porträt neben das Käferbild stellt. Oder jenes mit dem Text: «Aufgewacht als riesige Kakerlake. Die finanziellen Sorgen deiner Familie durch die Wand hören.»
Auch Kafkas Briefe, Tagebücher – sein ganzes Werk wird hundert Jahre nach seinem Tod von der Jugend aufgesogen und in Zitaten als Quintessenz im Internet geteilt: «1. Februar: Nichts. Nur müde.» Besonders Kafkas ungestüme Schilderungen von romantischer Liebe haben es den Jungen angetan. Es gibt eine ganze Unterkategorie von Kafka-Memes, die beginnt mit: «wenn er sagt ‹ily› [I love you] aber kafka sagte …» gefolgt von einem Zitat wie «Du bist das Messer, mit dem ich in mir wühle».
Und apropos Gen-Z-meets-Kafka-Humor.Mein liebstes Meme ist vielleicht dieses: «Würdest du mich noch lieben, wenn ich ein Käfer wäre? – Nein, ich würd dir Äpfel anschmeissen.»
Michelle Steinbeck ist Autorin. Sie feiert 2024 auch das Goliarda-Sapienza-Jahr: Die sizilianische Autorin, die mit ihrem Jahrhundertwerk «Die Kunst der Freude» einige Nerven der Zeit trifft, würde heuer ihren 100. Geburtstag feiern.