Erwachet!: Im Reich der Schatten

Nr. 21 –

Michelle Steinbeck springt in den Fluss

Die frühsommerliche Hitze und die Lektüre Simone Weils mischen mir Träume von unheimlichen Reisen ans Meer. Statt Erholung lauert die Katastrophe, und Simone Weil flüstert ins Unterbewusstsein: «Unsere Situation gleicht der von Reisenden, die in einem führerlosen Wagen mit Vollgas durch unbekanntes Gelände rasen. Wann kommt es zum Crash, nach dem man versuchen kann, etwas Neues aufzubauen?»

Wie können wir uns einen solchen Crash vorstellen? Das Bouquet an massiven Bedrohungen scheint derzeit besonders üppig – wobei nicht alle das Gleiche fürchten. «Die Wirtschaft» etwa sorgt sich laut «SonntagsZeitung» über den Klimawandel: «Denn die neuen Temperaturen lassen die Arbeitsproduktivität nachweislich sinken.» Im Newsletter teilt der produktive Redaktionsleiter seine Albträume: «Werden die Schweizer zu den neuen Griechen? Brauchen wir bald alle unsere Siesta?»

Das Denken sei abgeschafft worden, lese ich derweil bei Simone Weil. Wer mag ihr widersprechen? Das Googeln von «Affenpocken» fühlt sich in Anbetracht der Medienberichte an wie eine unglaubliche Zeitreise in die achtziger Jahre: Fehlt nur noch die Schlagzeile «Schwulenseuche». Das Robert-Koch-Institut leistete dabei seinen Teil, indem es im Communiqué zur aktuellen Verbreitung dieser Zoonose explizit nur Männer, die Sex mit Männern haben, aufforderte, sich bei Symptomen in medizinische Behandlung zu begeben.

Simone Weil spricht von einem Chaos in Wissenschaft und Wirtschaft, weil das Denken von mechanischen Prozessen abgelöst worden sei. Sie plädiert deshalb für das, «was man verspürt, wenn man sich durch eine nicht-maschinelle Arbeit direkt mit der Welt auseinandersetzt. […] In jenen Momenten unvergleichlicher Freude und Fülle wird uns blitzartig bewusst, dass das wahre Leben da ist, wir erfahren durch unser gesamtes Sein, dass die Welt existiert und dass wir in der Welt sind.» 

So mache ich mich auf die Suche nach diesen Momenten der Welterfahrung. Ich frage Freund:innen, wann sie ein solches Gefühl verspüren. «Beim Kochen», antwortet einer. Und was ist mit Schreiben? Beinhaltet es nicht auch das Privileg einer solchen nichtmaschinellen Arbeit? Oder etwa nur bei handschriftlicher Tätigkeit? Ich lese weiter.

Für Simone Weil dürfte die Kultur weder Selbstzweck noch blosse Zerstreuung sein – statt ein Mittel zu sein, um der Realität zu entkommen, sollte sie vielmehr «das wirkliche Leben vorbereiten» und den Menschen ein «würdiges» Verhältnis zur Welt anbieten, in der sie leben. Auch wenn Weil in der Kunst und besonders der Literatur Reaktionen auf die gesellschaftlichen Missstände findet, so macht sie sich über deren Wirkung keine Illusionen: Weder das Denken noch das Handeln könnten durch Literatur verändert werden. «Sie verlässt also nicht das Reich der Schatten.»

Ich schliesse das Buch, trete aus dem Schatten und springe in den Fluss. Beim Auftauchen aus dem kalten Wasser ist er da, der Moment: plötzlich hellwach, die Haut elektrisiert, goldene Abendsonne. Gibt es etwas Besseres als den ersten Schwumm des Jahres?

Aber ob Simone Weil das als Arbeit durchgehen liesse? Die italienische Schriftstellerin Goliarda Sapienza schrieb einst: «Um die Revolution voranzutreiben, muss man seine Fantasie anregen, wo es nur geht. Die wahre Revolution muss man erst erfinden.»

Michelle Steinbeck ist Autorin pro Siesta.