Literatur: Keine Versöhnung, aber ein Loslassen
Die eigenen Geschichten verarbeiten, indem man über andere redet? Mit ihrer Spurensuche zum frühen Unfalltod ihres Vaters steht Zora del Buono auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Im August 1963 – Zora del Buono ist gerade mal acht Monate alt – wird ihr Vater bei einer Frontalkollision mit einem waghalsig überholenden Amerikanerschlitten im St. Gallischen schwer verletzt. Tage später stirbt er im Spital. Manfredi del Buono war Oberarzt am Kantonsspital Zürich und zusammen mit seinem Schwager in dessen VW-Käfer unterwegs zur Arbeit: Er war ein leidenschaftlicher Radiologe aus Süditalien (diese Familiengeschichte hat die Autorin in ihrem Roman «Die Marschallin» erzählt) und mit einer Schweizer Röntgenassistentin verheiratet.
Der fehlbare junge Lenker, von dem die Tochter lediglich die Initialen E. T. kennt, wird zu einer lächerlich geringen Strafe verurteilt. Fast sechzig Jahre später – just, als ihre an Demenz erkrankte Mutter in ein Pflegeheim übersiedeln muss – drängt es Zora del Buono, mehr über den «Töter meines Vaters», wie sie den Unfallverursacher nennt, zu erfahren. «Seinetwegen» ist das faszinierende Dokument dieser Recherche.
Autofiktion hat seit längerem Konjunktur, auch in der Schweizer Literatur: von Kim de l’Horizons «Blutbuch» über Eric Bergkrauts Memoiren zum Sterben seiner Frau Ruth Schweikert bis zu Christian Hallers Roman «Das Institut» über das Gottlieb-Duttweiler-Institut. Doch Zora del Buono verzichtet auf jegliche Fiktionalisierung. «Seinetwegen» ist kein Roman, sondern ein von Intuition und Reflexion geprägtes Prosabuch. Da sind zum einen nüchtern prägnant geschriebene Protokolle ihrer Nachforschungen bei Ämtern und Behörden, beim Räumen der mütterlichen Wohnung, aber auch vor Ort, in Beizen und Altersheimen, bei Menschen, die den gesuchten E. T. gekannt haben könnten. Zum anderen verknüpft die Autorin ihre Erkundung assoziativ mit zeitgeschichtlichen, teilweise fast ethnografischen Abschweifungen und Anekdoten, die sie stets mit Statistiken und Fakten unterfüttert: zu den Toten des Molochs Strassenverkehr, zur skandalträchtigen evangelikalen Schule «Domino Servite» des Chocolatiers Jürg Läderach, die im selben Landstrich wie der Unfallort liegt, oder zur 1782 als «Hexe» hingerichteten Dienstmagd Anna Göldi.
Gespräche als Echoraum
Zentrum des Buches bleibt das Nachdenken der Autorin über ihr Leben ohne Vater (die selbstbewusste Mutter hat ihr weiteres Leben allein gemeistert). Dabei entdeckt del Buono, nach Jahren als Architektin und Redaktorin in Berlin heute in der Zürcher Agglomeration zu Hause, dass vielen Menschen Vergleichbares widerfahren ist. So kann sie die im Buch offen angesprochenen Selbstzweifel, «dass es grenzenlos egoistisch und uninteressant für andere ist, über ein fehlendes Elternteil nachzudenken», etwas zerstreuen – weil es «im Gegenteil mehr Leute betrifft als angenommen, solche, die aus niedergeschriebenen Erfahrungen einer Fremden ihr eigenes Erleben neu betrachten können».
Als Echoraum für ihre fortschreitenden Nachforschungen fungieren Gespräche im Kaffeehaus, die del Buono mit zwei Bekannten führt, einer Psychiaterin und einem Raumgestalter, beide ein gutes Jahrzehnt älter als sie selbst. Diese dicht resümierten Gespräche erweitern die einsamen Suchbewegungen der Autorin um Einsichten zu historischen und literarischen Bezügen. Stichworte sind etwa die Unfalltoten auf den Strassen – unter anderem bei Albert Camus, W. G. Sebald, Ödön von Horváth –, Alexander Mitscherlichs Nachkriegsklassiker «Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft», aber auch frühe Bindungen, Schuld und Schweigen.
Natürlich denkt Zora del Buono auch intensiv darüber nach, warum sie sich gerade jetzt der grössten Leerstelle ihres Lebens zuwendet, wo sie auch die Mutter verliert: «Weil ich es endlich darf? […] Oder weil ich genau wegen ihrer Demenzerkrankung eine fundamentale Einsamkeit spüre, die Verlorenheit eines Kindes von sechzig Jahren, das allein zurückgelassen wird, unwiderruflich, und ich mich nach einem Vater sehne und ihm so näherzukommen glaube?»
«Plötzlich liegt alles offen dar»
Dank ihrer Beharrlichkeit und auch dank eines jungen Mitarbeiters im Staatsarchiv führt del Buonos Recherche zum Erfolg. Nicht nur der Name des 2009 verstorbenen Chevrolet-Lenkers, auch sein mutmasslicher Lebensweg und die Prozessakten zum Unfall: «plötzlich liegt alles offen dar», wie es im Buch heisst. Während der verlorene Vater trotz einiger Fotos und Super-8-Filme wenig greifbar bleibt und ihr der Abschied von der Mutter droht, ist es «E. T.», der ihr nähergekommen ist, kein quasi «extraterrestrisches Phantom» mehr ist, «sondern ein Mensch» – mit schwierigem Schicksal. Es gibt keine Versöhnung, aber ein Loslassen: Am Ende entsorgt die Autorin das einzige Bild des Unfallfahrers, das ihr zugesteckt wurde, ohne es je angeschaut zu haben.
Die Gespräche über ihr Geschick kulminieren im vorsichtigen Fazit: «Vielleicht verarbeitet man die eigenen Geschichten, indem man über andere redet.» Trotz des traurigen Themas erzählt Zora del Buono schnörkellos, unpathetisch, unsentimental. «Seinetwegen» ist ein auch literarisch überzeugender Text, der gerade in seiner subtilen Distanziertheit emotional stark bewegt.