Medienkrise in der Romandie: «Was sollen unsere Leser:innen denken?»
Die neuste Entlassungswelle bei Tamedia hat besonders in der Romandie Besorgnis ausgelöst. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer – und Widerstandsgeist.
Es ist Montagabend, und im Café de la Presse sind schon einige Tische besetzt. Parkettboden, hohe Fenster, ein langer, ovaler Tresen, schummriges Licht: Es ist gemütlich in der Bar im Genfer Stadtzentrum. Sie ist ein beliebter Treffpunkt fürs Feierabendbier – besonders bei Journalist:innen.
Gleich ums Eck liegt die Redaktion der «Tribune de Genève», die dem Tamedia-Zeitungsimperium gehört. Kurz nach 18 Uhr treffen vier Redaktor:innen und ein Fotograf der «Tribune» in der Bar ein. Sie kämen oft her, sagt Emma Rochat, die wie die anderen ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Doch ausgelassene Apérostimmung herrscht an diesem Abend nicht. Vor zwei Wochen erfuhren die Journalist:innen, dass einige von ihnen wohl ihren Job verlieren werden. Wie viele genau und wer, soll Anfang kommender Woche bekannt gegeben werden. Das Warten sei unerträglich, Gerüchte machen die Runde. «Es werden wohl vierzig Stellen in der Romandie gestrichen», sagt Rochat, die in ihrer kurzen Zeit beim Unternehmen bereits mehrere sogenannte Umstrukturierungen erlebt hat. «Ich habe sogar von sechzig Stellen gehört!», ruft ihr Kollege. Die Entlassungen seien ein ständiges Thema auf der Redaktion, die Stimmung sei auf dem Nullpunkt.
Liberalismuskritik der Liberalen
Es ist die zweite Entlassungswelle innerhalb eines Jahres bei Tamedia: Nachdem im letten Herbst bereits rund 48 Stellen gestrichen wurden, sollen nun laut Ankündigung von Ende August weitere 290 Vollzeitstellen wegfallen – 90 davon in den Redaktionen, auch sollen zwei Druckereien geschlossen werden (siehe WOZ Nr. 35/24). Mit der neuen Strategie sichere man «die Zukunft des Tamedia-Qualitätsjournalismus», hiess es zynisch in einer Mitteilung des Unternehmens. Zur Strategie gehört auch die Konzentration auf vier starke «Marken», wovon nur eine auf die Romandie entfällt: die Waadtländer Zeitung «24 heures». Die «Tribune de Genève», die wichtigste Zeitung im Kanton Genf, solle ihren digitalen Auftritt behalten.
Was vielleicht beschwichtigend gemeint war, kam in Genf ganz anders an. «Sie behaupten, dass die ‹Tribune› weiter existieren wird», sagt Rocco Zacheo am Telefon und fügt hinzu: «Gleichzeitig kreieren sie Rahmenbedingungen, die so schlecht sind, dass sie in ein paar Jahren die Argumente haben, um uns ganz verschwinden zu lassen.» Zacheo arbeitet seit über zehn Jahren bei der «Tribune» und vertritt als Präsident der Redaktionsgemeinschaft und des Personals die Interessen seiner Kolleg:innen gegenüber dem Unternehmen. Mit den schlechten Rahmenbedingungen meint er: mehr Druck und weniger Ressourcen, weniger Möglichkeiten, gute Inhalte zu liefern, folglich weniger Leser:innen und damit wiederum Argumente zur Streichung von Ressourcen. Es stelle sich die Frage, was schlimmer sei, sagt Zacheo frustriert, «entlassen werden oder unter diesen Konditionen bleiben?».
«Die TX Group macht Gewinne und verwaltet die Presse wie ein gewöhnliches Konsumgut – doch die Presse ist der Grundpfeiler der Demokratie.» Diese klaren Worte fand am Tag der Entlassungsankündigung beim Unternehmen Tamedia, das Teil der TX Group ist, nicht etwa eine linke Politikerin, sondern die Genfer FDP-Staatsrätin Nathalie Fontanet. Und sie war damit nicht alleine: Auch die Waadtländer FDP-Staatsrätin Christelle Luisier kritisierte die Abbaupläne. Man müsse sich fragen, ob grosse Konzerne wie die TX Group weiterhin Eigentümer von Zeitungen sein sollten, die für die Meinungsbildung in den Gemeinden und Kantonen so wichtig seien, sagte Fontanet in den RTS-Abendnachrichten. Vielleicht, so die FDP-Politikerin, sollte man sich ein Beispiel nehmen an Zeitungen wie «La Liberté».
Einst katholisches Kampfblatt
An einem warmen Spätsommertag in Fribourg: Das Gebäude, ein grauer Achtziger-Jahre-Betonblock, wirkt verlassen, die automatische Tür bleibt verschlossen. «Hier drüben», ruft Adrien Schnarrenberger, der von der Strasse angelaufen kommt. Er führt zum Gebäude nebenan: Druckerei Saint Paul, gegründet 1873, steht über dem Eingang – eine Druckerei gibt es hier allerdings schon lange nicht mehr. «Wir sind nur noch im zweiten Stock», sagt Schnarrenberger und führt die Treppe hoch.
An einem Ende des langen, mit grauem Linoleum ausgelegten Gangs befinden sich Archivordner, die noch aus Zeiten stammen, in denen «La Liberté» ein katholisch-konservatives Kampfblatt war. Ab den siebziger Jahren schlug die französischsprachige Fribourger Zeitung unter Chefredaktor François Gross einen liberaleren Kurs ein. «Heute ist die Zeitung komplett säkular», erklärt Schnarrenberger.
Der erfahrene Journalist arbeitet seit einigen Monaten wieder bei «La Liberté», der Tageszeitung mit der drittgrössten Auflage in der Romandie. Es ist das zweite Mal, dass Schnarrenberger hier angestellt ist, nachdem er 2021 zwischenzeitlich zum neu gegründeten Onlineangebot des «Blicks» in der Romandie gewechselt war. Wie geht es «La Liberté», die plötzlich als eine Art Zukunftsmodell gehandelt wird? Verhältnismässig gut, meint Schnarrenberger, «die Verbundenheit mit der ‹Liberté› ist in der Region gross». Doch die Medienkrise geht auch an der Fribourger Zeitung nicht spurlos vorbei: Sinkende Abozahlen und Werbeeinnahmen, Schwierigkeiten mit der Digitalisierung und letztes Jahr auch der Abbau von fünf Stellen.
Lange sei «La Liberté» ein Erstlesemedium gewesen, erklärt Schnarrenberger. Doch heute würden Leser:innen vielfach eher RTS, «Le Monde» oder BBC konsultieren, um zu wissen, was in der Welt geschehe. Deswegen konzentriere man sich seit kurzem verstärkt auf die lokale Berichterstattung – und hat dafür die internationale abgebaut. Um die Seiten zu füllen, pflegt die Zeitung auch Partnerschaften, etwa mit der linken Genfer Zeitung «Le Courrier», deren Artikel sie regelmässig übernimmt.
Was «La Liberté» einzigartig macht, ist ihre Finanzierung. Hauptaktionärin der Zeitung ist nämlich seit jeher eine katholische Ordensgemeinschaft: die Paulusschwestern. 2014 öffneten die Schwestern ein Drittel des Aktionariats. Sie stellten klare Bedingungen an künftige Aktionär:innen, darunter eine starke regionale Verankerung und die Anerkennung einer redaktionellen Charta, die die Unabhängigkeit der Zeitung sicherstellen soll. Schliesslich kauften sich mit der Freiburger Kantonalbank und dem Energiekonzern Group E zwei der wichtigsten kantonalen Unternehmen ein – eine Nähe, die man auch kritisch betrachten kann.
Liegt die Zukunft der Medien also im Lokalen? Jedenfalls verweist auch Philippe Amez-Droz auf dessen Bedeutung. Der ehemalige Journalist und Dozent für Medienökonomie der Uni Genf findet zudem, so schlimm, wie gerne dargestellt, sei die Medienkrise in der Romandie nicht. «Die Vielfalt und die Dichte an Medien sind nach wie vor sehr gross.» Der Branche gehe es zwar wirtschaftlich nicht gut, auf lokaler Ebene sei sie aber noch sehr dynamisch. Amez-Droz verweist auf Neugründungen oder Fusionen wie den Zusammenschluss zweier Neuenburger Titel zur Zeitung «Arcinfo». Trotzdem: Dass viele, auch traditionsreiche Zeitungen wie «L’Hebdo» oder «Le Matin» Ende der zehner Jahre verschwunden sind, lässt sich nicht wegdiskutieren. Genauso wenig wie die Tatsache, dass die Inhalte uniformer wurden.
Wer soll das bezahlen?
«Wenn man sich die Kommentare anschaut, sieht man, dass sich viele Leser:innen darüber beschweren, es stehe überall das Gleiche», sagt Emma Rochat dazu im Genfer Café de la Presse. Gleichzeitig sei es ein Problem, dass sie zum Teil nationale und internationale Artikel bekämen, die überhaupt nicht zu regionalen Interessen passten, ergänzt ihr Kollege. «Kürzlich publizierten wir die Übersetzung eines Interviews mit einem rechten Experten aus Deutschland, der darüber sprach, dass die Migration an allem schuld sei. Das passt überhaupt nicht zu unserer redaktionellen Linie. Was sollen unsere Leser:innen da denken?»
Die entscheidende Frage für die noch bestehenden Zeitungen der Romandie lautet: Wie könnte eine nachhaltige Finanzierung in der Zukunft aussehen? Sollte man auf das Mäzenatenmodell von «Le Temps» setzen, einer Tageszeitung, die 2021 von der privaten Stiftung Aventinus übernommen wurde? Abgesehen von Bedenken bezüglich Unabhängigkeit und Transparenz scheint es auch hier nicht besonders gut zu laufen: «Le Temps» fuhr jüngst Verluste von mehreren Millionen Franken ein. Also doch mehr staatliche Förderung, wie sie sowohl national als auch etwa im Kanton Genf von einigen gefordert wird? Der ehemalige Journalist Amez-Droz glaubt nicht daran. «Politische Heuchelei» nennt er den aktuell grossen Aufschrei. Einen solchen habe es auch schon gegeben, als andere Genfer Titel verschwunden seien. «Zusätzliches Geld wird es vom Staat nicht geben.»
Caroline Marti würde Geld ausgeben wollen. Die SP-Politikerin sitzt im Grossen Rat des Kantons Genf und macht sich schon länger Sorgen um die Vielfalt der Medienlandschaft. 2018 hatte sie bereits einen Vorstoss eingereicht, der die Schaffung einer öffentlichen Stiftung für Presseförderung vorsah. Damals wurde der Vorstoss, den sie heute selbst etwas kompliziert und strikt findet, vom Parlament abgelehnt. «Wir diskutieren aber jetzt gerade, den Vorschlag in angepasster Form noch mal einzubringen.»
«Noch in Verhandlungen»
Von rechts bis links, von Politiker:innen über Journalist:innen: Die Idee, regional wichtige Zeitungen in die Hände lokaler Akteur:innen und Investor:innen zu legen, scheint in der Romandie zu gefallen. Trotzdem hat das «Liberté»-Modell wohl nicht das Potenzial, die «Tribune de Genève» zu retten, denn: Sie steht nicht zum Verkauf. «Tamedia wird unsere Zeitung niemals verkaufen», glaubt der «Tribune»-Journalist Rocco Zacheo und wiederholt mit Nachdruck: «Niemals. Lieber werden sie das Blatt eingehen lassen.» Das Unternehmen wolle keine Konkurrenz für seine eigenen Titel.
Könnte zusätzlicher Druck aus Öffentlichkeit und Politik etwas bewirken? Und überhaupt: Wie steht es eigentlich mit dem Druck aus der Arbeiter:innenschaft? Von einem Streik will zurzeit niemand laut reden. «Wir befinden uns noch in Verhandlungen», sagt Zacheo ausweichend. Und auch bei der Mediengewerkschaft Syndicom heisst es, ein Streik sei bisher nicht in Sicht.
Man habe auf die Druckereien gehofft, sagt ein «Tribune»-Journalist im Café de la Presse. «Wenn wir streiken, dann bringen sie einfach mehr Inserate, wenn die Druckereien streiken, erscheint keine Zeitung.» Seine Kollegin Emma Rochat findet, die Kommunikationsstrategie von Tamedia erschwere es, Leute zu mobilisieren. «Die Infos kommen immer nur häppchenweise.» Ihre ältere Kollegin wendet schliesslich ein: «Sollten in der Romandie tatsächlich so viele Stellen gestrichen werden, wie viele befürchten, könnte es durchaus zu einer längeren Arbeitsniederlegung kommen.» Und tatsächlich: Am Erscheinungstag dieser WOZ wird schon mal ein einstündiger Warnstreik stattfinden.