Ruth Wilson Gilmore: «Abolitionismus ist eine Aufforderung, internationa­listisch zu denken»

Nr. 37 –

Nicht nur in den USA setzt die Politik zunehmend auf Polizei, Grenzen und Strafjustiz. Die US-Geografin Ruth Wilson Gilmore erklärt, warum Linke das grundsätzlich bekämpfen sollten und wieso Abolitionismus mehr ist als eine historische Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei.

Portraitfoto von Ruth Wilson Gilmo
Von Abolitionismus in der Gegenwart zu sprechen, heisst auch, «alle Bedingungen zu sehen, die für ein erfülltes, gutes Leben nötig sind»: Ruth Wilson Gilmore. Foto: Don J. Usner

WOZ: Ruth Wilson Gilmore, beginnen wir mit einer konkreten Zahl, die Sie häufig zitieren: Von 160 Millionen Menschen, die in den USA lohnabhängig sind, haben 100 Millionen einen Eintrag in Polizei- und Strafregistern. Auch wenn es dabei oft nur um Bagatelldelikte geht: Was bedeutet es für die lohnabhängige Klasse in den USA, dass so viele Menschen Strafverfolgung fürchten müssen?

Ruth Wilson Gilmore: Es hat extrem materielle Konsequenzen: Löhne werden gedrückt, weil den Betroffenen leicht gekündigt werden kann und weil sie Probleme haben, neue Jobs zu finden. Gleichzeitig machen diese Einträge die Leute verletzlicher in Lebensbereichen, die nichts mit dem Job direkt zu tun haben: Es ist schwerer, eine Mietwohnung zu finden, Kredite zu bekommen oder ein Auto zu kaufen. Die einfachen Dinge, die die Menschen brauchen, um ihr Leben im «racial capitalism» am Laufen zu halten, werden erschwert.

«Racial capitalism» ist ein Schlüsselbegriff in neueren linken Debatten im englischsprachigen Raum. Auf Deutsch ist er nicht ganz einfach zu übersetzen. Vielleicht könnten Sie den Begriff für uns genauer definieren?

Kapitalismus beruht auf Ungleichheit, und Rassismus schreibt diese fest. Es ist einer von mehreren Mechanismen, mit denen der Kapitalismus die Ungleichheit produziert, die Kapitaleigentümer benötigen, um sich den Mehrwert aneignen zu können. Der Begriff «racial capitalism» hilft also zu verstehen, warum grosse Teile der Weltbevölkerung – das betrifft nicht nur die USA – entlang von kulturellen oder biologischen Unterschieden gespalten werden und wie Ungleichheit zu einem scheinbar objektiven Phänomen wird. Dabei beschreibt der Begriff einen Prozess: Rassismus ist nicht etwa Folge von «Rasse», sondern es ist umgekehrt der Rassismus, der dazu führt, dass wir «Rassen» zu erkennen glauben.

Die Abolitionistin

Ruth Wilson Gilmore (74) wurde im US-Bundesstaat Connecticut geboren und wurde im Umfeld der Black Panther Party politisiert. Nach der blutigen Zerschlagung der Schwarzenbewegung durch die US-Regierung durchlebte sie eine persönliche Krise und hielt sich viele Jahre mit verschiedenen Jobs über Wasser. Erst in den neunziger Jahren nahm sie ihr Studium in New York wieder auf und entwickelte eine eigenständige «Gefängnisgeografie». Heute ist sie Professorin an der City University of New York und gilt als eine der wichtigsten Theoretiker:innen des Abolitionismus.

Damit sind wir eigentlich auch schon beim Abolitionismus. Der Begriff war lange gleichbedeutend mit der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei. Sie und andere Abolitionist:innen beziehen den Begriff aber auf gegenwärtige Verhältnisse. Was ist das für eine Bewegung, und was will sie abschaffen?

Meiner Ansicht nach ist es kein grosses Problem, dass viele Menschen bei dem Begriff zunächst an die Abschaffung des Sklavenhandels denken. Denn diese historische Bewegung war erstens sehr internationalistisch und stellte zweitens in ihrer radikalen Form einen Angriff auf den Kapitalismus dar, der sich massgeblich auf die Sklaverei und die von versklavten Menschen produzierten Güter und Vorprodukte stützte. Abolitionismus ist in diesem Sinne eine Aufforderung, historisch und internationalistisch zu denken, sich der Grundlagen des Kapitalismus bewusst zu sein. Wenn wir von Abolitionismus in der Gegenwart sprechen, geht es aber auch darum, alle Bedingungen zu sehen, die für ein erfülltes, gutes Leben nötig sind. Ich würde sagen: Wir müssen die Abschaffung des Kapitalismus erproben, indem wir andere Bedingungen und Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umwelt erschaffen. Das ist mehr als die blosse «Beseitigung» von Gefängnissen, Polizei und organisierter Gewalt. Nämlich die Überwindung der Bedingungen, die diese hervorbringen.

Seit den Protesten gegen rassistische Polizeigewalt 2020 ist Abolitionismus für viele linke Bewegungen eine Referenz. Sie beschäftigen sich allerdings schon viel länger mit der Frage, welche Bedeutung Polizeigewalt und Masseninhaftierung für die kapitalistisch-rassistische Ordnung besitzen. Wie kamen Sie dazu?

Ich bin da mehr oder weniger reingestolpert. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre tauchte das Thema «Gefängnis und Polizeigewalt» einfach in allen Kämpfen auf, an denen wir beteiligt waren. 1991 wurde der Schwarze Rodney King von der Polizei in Los Angeles fast totgeprügelt. Und als die verantwortlichen Polizisten ein Jahr später in erster Instanz freigesprochen wurden, ging die Stadt in Flammen auf. Mit anderen Genoss:innen fingen wir damals an, mit Frauen zu arbeiten, deren Kinder im Gefängnis sitzen. Ich hatte nie vor, wissenschaftlich darüber zu schreiben, es war einfach Teil meiner politischen Arbeit. Aber in dieser Gruppe, Mothers Reclaiming Our Children, haben die anderen mich ständig angesprochen: «Ruthie, du hast so etwas gelernt. Geh in die Bibliothek! Finde heraus, was das bedeutet! Organisier einen Workshop für uns!» Aber auch die Mütter selbst haben über Gefängnis und Polizei zu recherchieren begonnen. Es war wirklich eine kollektive Wissensproduktion, bei der wir klären wollten, was in unseren Kampagnen, abgesehen von der konkreten Unterstützung der Angehörigen, thematisiert werden sollte. Viele in unserer Organisation waren der Ansicht, dass das, was wir taten, unpolitisch sei.

Wieso?

Weil für sie «politisch» gleichbedeutend mit Parteipolitik war und sie sich ja in erster Linie für ihre weggesperrten Angehörigen einsetzen wollten. Bei ihnen ging es um Liebe, Familie, Freundschaft, Mitgefühl, gegenseitige Unterstützung … Es war wichtig zu begreifen, dass gerade auch das Politik ist.

Sie waren damals gar nicht im Wissenschaftsbetrieb. Sie stammen aus einer Gewerkschafterfamilie, haben Schauspiel gelernt und gejobbt …

Weil ich einen richtigen Job brauchte, bin ich mit über vierzig noch einmal zurück an die Universität, um zu promovieren. Eigentlich wollte ich eine stadtgeografische Arbeit über Universitätsspitäler und Vertreibungsprozesse in den anliegenden Nachbarschaften schreiben, aber mein Betreuer Neil Smith …

… ein marxistischer Stadtsoziologe, der beim Stadtgeografen David Harvey studiert hatte …

Richtig, Davids Kind war mein Vater (lacht) … Neil Smith meinte auf einer Party, dass ihn mein Vorhaben nicht interessiere. Dabei war ich für die Promotion quer durch die USA nach New York gezogen! Ich habe einen ganzen Tag geheult, weil ich eigentlich lieber in Kalifornien hatte bleiben wollen. Danach habe ich eineinhalb Semester lang neue Themen aus Forschungsseminaren durchprobiert, bis ich im Frühjahr 1994 ein Konzept zu Gefängnissen schrieb. Daraus entstand dann das Buch «Golden Gulag».

Darin untersuchen Sie den «gefängnisindustriellen Komplex» in den USA und widerlegen die These, dass das Gefängnis so etwas wie die «Plantagenökonomie der Gegenwart» darstelle, weil man mit der Arbeit von zwei Millionen Häftlingen so viel Geld verdienen könne. Sie zeigen, dass nur ein kleiner Teil der US-Gefängnisse privat betrieben wird und Zwangsarbeit viel weniger verbreitet ist als angenommen. Wenn es aber nicht darum geht, die Arbeit der Gefangenen auszubeuten – worin besteht dann die Funktion der Masseninhaftierung in den USA?

Meine These ist, dass sie einem Teil des öffentlichen Sektors enormes Wachstum ermöglicht. Die Gefangenen büssen hier weniger mit unentlohnter Arbeit als mit Lebenszeit, die gewissermassen monetarisiert wird. Der Bau der Gefängnisse, Überwachungstechnologien, Verpflegung, die Gehälter des Sicherheitspersonals: Da gelangt viel öffentliches Geld in private Hände. Die Gefangenen sind untätig eingesperrt, während die Wirtschaft brummt. Dabei ist Zeit die nichterneuerbare Ressource überhaupt. Dass so viele Menschen das Gefängnis als neue Form der Sklaverei beschrieben, hatte aber auch etwas Naheliegendes: Bei unserer Gruppe beispielsweise, den Mothers Reclaiming Our Children, haben viele das Bild verwendet, weil die Erfahrung der Sklaverei in ihren Familien sehr präsent war. Und wenn du eine Bewegung aufbaust, ist es kein besonders kluger Ansatz, ihnen zu erklären, dass ihr Bild falsch ist.

Das Ausmass der Masseninhaftierung in den USA ist gigantisch: 1,9 Millionen Menschen sitzen im Gefängnis – mehr als 0,5 Prozent der Bevölkerung. Nirgendwo sonst in der Welt sind die Zahlen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung so hoch. Sie kennen sich aber auch in Europa gut aus. Wie würden Sie das Gefängnis- und Strafsystem im Allgemeinen kritisieren, also auch jenseits der USA?

Ich würde hier gern einen Begriff einführen, den ich in dem Zusammenhang für extrem wichtig halte: «organized abandonment» …

… was man als organisierte, politisch hergestellte «Vernachlässigung» von Gruppen übersetzen könnte.

Aus einem Job entlassen werden, aus der Wohnung geworfen werden und in die Obdachlosigkeit geraten, ohne Papiere an einer Grenze stranden: Das ist «organized abandonment». Es sind Situationen, in denen Menschen immer weniger Handlungsoptionen haben. Und es sind Folgen eines organisierten Rückzugs, einer stillschweigenden Komplizenschaft von politischen Entscheidungsträgern, Machtgruppen, Staat und Kapital. Was folgt, wenn Menschen ihre Handlungsoptionen verlieren? Dann übernehmen die Kräfte der organisierten Gewalt die Kontrolle: Sie bedrängen, attackieren und inhaftieren die Menschen, die keine Optionen mehr haben. In diesem Prozess werden die staatlichen Gewaltorgane selbst zu einer politischen Macht. Sie sind natürlich schon vorher da, aber jetzt generieren sie Macht durch die Ausübung von Gewalt. Für den Polizisten, der 2020 George Floyd ermordete, war es sicherlich eine grosse Überraschung, dass er angeklagt und verurteilt wurde. Denn Gewaltorgane wie die Polizei sind Akteure in der politischen Landschaft geworden. Es sind staatliche Akteure, die mit anderen staatlichen Akteuren, etwa dem Gesundheits- und Bildungswesen oder dem Nahverkehrssystem, in Konkurrenz treten. Und diese Gewaltapparate beginnen, auch international zu kooperieren, gemeinsame Strategien zu entwickeln.

Zum Beispiel?

Die kenianischen Polizeikräfte, die im Juni Armutsproteste blutig niederschlugen, wurden von europäischen Polizisten trainiert. Israel exportiert seine polizeilichen Überwachungstechnologien nach Lateinamerika und in die ganze Welt. Diese Apparate schaffen auf ihre Weise eine eigenständige politische Macht, sie sind ein treibender Akteur der Rechtsentwicklung. Ich wohne mittlerweile in Portugal. Hier ist die Polizei noch nicht wieder so stark wie während der Diktatur. Aber sie wird ständig mächtiger und ist eine aktive Stütze der neuen rechtsextremen Partei Chega, die mehr als zwanzig Prozent der Abgeordneten im Parlament stellt. In Arbeitervierteln und migrantischen Nachbarschaften werden Überwachungstaktiken ausgebaut, die Armut wird als Polizeiproblem gefasst. Das verschiebt nicht nur das Verhältnis zwischen dem Staat und der sogenannten Zivilgesellschaft, sondern es geht auch mit Auseinandersetzung im Staat selbst einher.

Sie verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff des antistaatlichen Staates. In diesem sind neoliberaler Strukturwandel, Staatsbildung und «Karzeralität», also das Einkerkern von Menschen, untrennbar miteinander verbunden. Könnten Sie den Begriff genauer erklären?

Ich habe damit das Phänomen beschreiben wollen, dass Politiker:innen mit antistaatlichen Parolen Wahlkampf machen, dann aber im Amt keine Politik gegen den Staat, sondern gegen bestimmte Abteilungen des Staates machen. Nämlich gegen das, was früher als Ausdruck des Wohlfahrtsstaats begriffen wurde. Sauberes Wasser, unverschmutzte Luft, Bildung und Gesundheit – das waren lange staatliche Aufgaben. Heute haben wir es mit einem Staat zu tun, der seinen Niedergang verspricht, aber gleichzeitig seine Handlungsmacht expandiert und intensiviert. Das lässt sich global beobachten und drückt sich unter anderem im Ausbau der Gewaltorgane und der Militärapparate aus.

Als Gegenkraft gegen diese gewalttätige Staatsmacht spielt die Selbstorganisation von Gemeinschaften sicherlich eine wichtige Rolle. Trotzdem betonen Sie häufig, dass Sie keine Anarchistin sind.

Meine Gegenfrage wäre: Warum begreifen wir den Staat als etwas, das sich gegen uns richtet, statt uns zu verteidigen? Wir brauchen grosse Infrastrukturen, um das Leben zu schützen. Sauberes Trinkwasser, gute Verkehrssysteme, Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Landwirtschaft zum Beispiel. Und ich sehe nicht, wie anarchistische Selbstverwaltungsgemeinschaften allein solche Infrastrukturen schaffen können. Bestimmte anarchistische Praktiken zeigen uns auf, wie Demokratie anders funktionieren könnte und wie ein Staat deshalb aussehen sollte. Aber Wasserqualität ist meiner Ansicht nach nicht etwas, das man der lokalen Selbstverwaltung überlassen kann. Trinkwasser sollte flussabwärts die gleiche Qualität wie flussaufwärts haben. Für die Bereitstellung von Grundversorgung brauchen wir grosse, komplexe Institutionen. Ich bezeichne das als Staat, weil ich keinen besseren Begriff dafür kenne. Ausserdem gibt es noch ein zweites Problem mit den Gemeinschaften.

Welches?

Es gibt Menschen, mit denen ich nichts zu tun haben will und nicht auf einer Versammlung sitzen möchte, die ich aber trotzdem auch nicht leiden sehen will. Anders ausgedrückt: Wir brauchen Institutionen, die dafür sorgen, dass auch diejenigen nicht leiden, die wir persönlich vielleicht verachten. Ich sehe nicht, wie der Anarchismus solche Probleme lösen könnte.

Sie haben gerade ein Vorwort zu einer neuen Ausgabe eines Buchs von Lenin geschrieben. Der russische Revolutionär hat den Aufbau repressiver Staatsapparate aktiv vorangetrieben. Was kann man als Abolitionistin trotzdem von ihm lernen?

Es gibt von Lenin Aussagen zur Überwindung von Polizei und Gefängnissen, die durchaus so etwas wie eine abolitionistische Perspektive aufzeigen. Was mich aber in erster Linie an Lenin interessiert, ist seine Offenheit für neue Entwicklungen. Er war sehr überrascht darüber, wie die Petersburger Räte die Stadt während des Streiks 1905 am Laufen hielten. Ich denke, das sollten wir von Lenin lernen: die Überraschung ernst nehmen und systematisch über sie nachdenken. Lenin hat sich ja nicht einfach hineingestürzt und war von da an ein Anhänger spontaner Massenselbstorganisierung. Umgekehrt hat er aber eben doch registriert, dass da etwas entstanden war, das mit seinen bisherigen Vorstellungen wenig zu tun hatte.

Was bedeutet das für Ihren Ansatz?

Ich begreife Abolition nicht als Blaupause, sondern als flexibles Modell, das wir immer wieder neu an unsere Bedürfnisse anpassen müssen. In diesem Sinne habe ich in meinem Vorwort zum Lenin-Text Bezug auf Bewegungen der Gegenwart genommen, die mich sehr interessieren: Da ist beispielsweise die Abahlali-Bewegung für selbstorganisierten Hausbau in Südafrika, die sich fragt, wie Sozialismus von unten aufgebaut werden kann, ausgehend von konkreten Bedürfnissen. Da sind die brasilianische Landlosenorganisation MST, die sehr internationalistische Gewerkschaft der Krankenpfleger:innen in den USA, aber auch die gewählte kommunistische Regionalregierung im indischen Bundesstaat Kerala, wo 35 Millionen Menschen wohnen und konstant Kämpfe für soziale Veränderungen ausgetragen werden. In Zeiten, in denen der Neoliberalismus unsere Vorstellungskraft zersetzt, brauchen wir solche Beispiele.

Zum Schluss müssen wir Ihnen natürlich noch eine Frage zu den US-Präsidentschaftswahlen stellen. Ohne die Unterstützung des Kapitals kann sich der Faschismus kaum durchsetzen, und die grossen US-Konzerne waren gegenüber Donald Trump bisher eher zurückhaltend. Jetzt jedoch bekennen sich einige Superreiche zu ihm – vor allem Elon Musk und der deutsche Investor Peter Thiel. Ist der Faschismus eine realistische Option in den USA?

Ja, das ist er. Allerdings muss man betonen, dass viele Menschen in den USA und der Welt diesen Faschismus, der sich mit der Wahl von Trump weiter durchsetzen würde, schon heute zu spüren bekommen. Was Migrant:innen an Grenzen widerfährt, was die Straflosigkeit der Polizeigewalt angeht, was die Zerschlagung sozialer Infrastrukturen angeht – Betroffene erleben die Faschisierung schon heute.

Und was das Verhalten des Kapitals angeht?

Es stimmt, dass die Manager:innen der grossen Konzerne Kamala Harris mit Milliardenspenden überhäuft haben, als Joe Biden auf die Kandidatur verzichtet hatte. Riesige Summen sind da lockergemacht worden! Aber man darf sich nichts vormachen: Das letzte Mal, als Trump gewann, haben die Unternehmen sofort mit ihm kooperiert. Die Manager sagen, sie wollten dem Land dienen. Was sie eigentlich damit meinen, ist: Das Land hat dem globalen US-Kapitalismus gute Dienste geleistet. Und wir müssen auch sehen, dass die Dynamiken des Imperialismus die gleichen bleiben: Die USA sind weiterhin die grösste Wirtschafts- und Militärmacht der Welt. Sie mögen weniger Bodentruppen als China haben, aber sie verfügen über die grösste Tötungsmaschinerie. Ich sage ausdrücklich «sie» und nicht «wir». Wenn Trump gewinnt, werden sie sich an seinem Projekt beteiligen. Und noch etwas ist wichtig: Viel faschistischer als Trump ist seine Nummer zwei, J. D. Vance, den viele als Geschöpf Peter Thiels bezeichnet haben. Vance wurde vom Investor regelrecht erfunden. Seine Anleihen beim Faschismus sind viel eindeutiger als die Trumps – und Vance ist jung.

Der linke Stadtsoziologe Mike Davis, mit dem Sie befreundet waren, hat einmal den schönen Satz gesagt: «Kämpfe mit oder ohne Hoffnung, aber kämpfe mit aller Kraft.» Was würden Sie aus abolitionistischer Perspektive sagen, was unsere Handlungsmöglichkeiten angeht?

Der heutige Abolitionismus zieht seine Kraft aus der historischen Erfahrung, dass es dank harter und internationalistischer Kämpfe gelang, die kapitalistische Sklaverei zu besiegen. Von diesen langen, vielschichtigen Kämpfen sollten wir uns inspirieren lassen. In der Verzweiflung übersehen wir oft, was um uns herum geschieht. Aber Menschen organisieren sich ständig selbst, um Rechte zu verteidigen oder zu erkämpfen. C. L. R. James, der Autor von «Die schwarzen Jakobiner», hat einmal gesagt: Revolutionen finden statt, weil die Menschen so konservativ sind; sie warten und warten und versuchen alles, um die Situation irgendwie zu ertragen; bis sie eines Tages auf die Strasse gehen und innerhalb weniger Jahre die Unordnung von Jahrhunderten beiseiteräumen. Das bleibt meine Leitidee.