Sachbuch: Auch die Eisenbahn brauchte Zugochsen

Nr. 37 –

Im Zuge der Mechanisierung des 20. Jahrhunderts sind tierische Arbeitskräfte zusehends von Maschinen verdrängt worden – würde man meinen. Hans-Ulrich Schiedt erzählt eine andere Geschichte.

Heimarbeiter mit Kind auf Hundegespann im freiburgischen Corpataux, 1944
«Zieh, Bessie!»: Heimarbeiter mit Kind auf Hundegespann im freiburgischen Corpataux, 1944. Foto: Eugen Thierstein, Aus dem besprochenen Band

Als ich um 1960 herum im Zürcher Unterland aufwuchs, trotteten die Kühe schon nicht mehr durchs Dorf, sondern muhten brav auf der Weide und im Stall. An Zugpferde erinnere ich mich nicht, die Äcker wurden mit Traktoren bestellt. Zur gleichen Zeit stapfte meine Partnerin als Kind im Wallis zu den Winterställen ausserhalb des Dorfes, mitsamt Joggi, dem Familienhund, der einen Schlitten mit einem mit Essen gefüllten Milchtuitol darauf zog. Und «Gregi», der mächtige Gregor mit dem schwarzen Hut, brachte auf dem Maultier die Post und andere Waren ins hintere Lötschental.

So wurden Tiere noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regional unterschiedlich eingesetzt. Der Historiker Hans-Ulrich Schiedt tritt in einer umfassenden Studie über die «Arbeitstiere» der linearen Fortschrittserzählung entgegen, wonach die tierische Arbeit seit Anfang des 20. Jahrhunderts zusehends durch Maschinen verdrängt worden sei. Vielmehr existierten Maschinen und Tiere in der Arbeitswelt lange miteinander, ja die Tiere seien selbst ein – organischer – Motor des Fortschritts gewesen. Tatsächlich erreichte die Zahl der für diverse Arbeiten eingesetzten Tiere um 1950 einen absoluten Höhepunkt.

Tragen, ziehen, pflügen

Scheidt geht es dabei nur indirekt um Tiere als Nahrungsmittellieferanten; unter «Arbeitstieren» versteht er jene, die Lasten tragen und ziehen, eggen und pflügen, also «Bewegungsenergie» erzeugen. Organisiert ist das Buch in fünf Kapiteln gemäss den wichtigsten Tiergattungen: Pferde, Esel, Maultiere, Hunde, schliesslich Rinder, inklusive Kühen, Ochsen und Stieren. Ein bestimmendes Motiv der historischen Entwicklung ist laut Schiedt die «Pluriaktivität», die multifunktionale Nutzung, der Tiere. Das bezieht sich einerseits auf den Arbeitsort: Pferde oder Ochsen konnten nicht nur den Pflug ziehen, sondern transportierten in der Forstwirtschaft auch Baumstämme; Maultiere zogen Karren oder wurden gelegentlich zum Postdienst beigezogen.

Pluriaktivität wird aber auch funktional verstanden: Neben der Transportarbeit dienten Pferde zur Aufzucht; Kühe waren neben Arbeitstieren auch Milchproduzentinnen, Rinder lieferten Fleisch – während das höhere soziale Prestige der Pferde ihre Verwertung als Fleischlieferanten einschränkte. Diese unterschiedliche Multifunktionalität bestimmte mit, wie lange die einzelnen Tiergattungen am Tag und wie viele Jahre insgesamt sie für die Zugarbeit eingesetzt werden konnten. Zugleich gab es kollektive Formen, etwa beim aufwendigen Fuhrwesen über Bergpässe.

Eine zentrale Dominante war die kleinräumige Schweizer Landwirtschaft mit ihren vielen Familienbetrieben, die anders kalkulierten als aufkommende Grossbetriebe. So blieben lange regionale Unterschiede bestehen. Das Wallis war um 1960 nicht «rückständiger» als das Zürcher Unterland, vielmehr war der Einsatz von Tieren den geografischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten angepasst.

Vom Zugpferd zum Rennstall

Doch im «Langen 19. Jahrhundert» ersetzte die Eisenbahn nicht etwa die Tierarbeit, sie erforderte im Gegenteil mehr Transportleistungen zur Feinverteilung der zunehmenden Warenmengen. Auch das Wachstum der Städte, das auf der Arbeitsteilung mit der Nahrungsmittel produzierenden Landschaft gründete, verlieh dem Transport durch Tiere einen Aufschwung. Diese Koexistenz dauerte bis Mitte des 20. Jahrhunderts, wobei es weiter zu differenzieren gilt: Ab 1850 wurden Pferde zusehends durch Rinder abgelöst, parallel zum Ausbau der Milchwirtschaft zulasten des Ackerbaus, weil Rinder und Kühe multifunktionaler als Pferde eingesetzt werden konnten. Ansatzweise geht Schiedt auch auf die Beziehung zwischen Mensch und Tier ein. Die Fotos mit ausführlichen Bildlegenden lassen sich hier als Parallelgeschichte zum Text lesen.

Schiedt schreibt anschaulich, zugleich präzis; das Buch liest sich flüssig, gar vergnüglich. Nur zu Beginn arbeitet er sich allzu stark an der Sekundärliteratur ab, und ab und an gehen ihm, nun ja, die Pferde durch, und er verliert sich im Gestrüpp allzu vieler Details. Insgesamt aber ist das Buch ein erhellendes Standardwerk mit klar belegten Thesen und reichhaltigem Material. Immer wieder wirft Schiedt Streiflichter auf breitere Entwicklungen, etwa wenn Pferde nicht mehr nach «Schlägen», sondern als «Rassen» klassifiziert werden, parallel zur Konjunktur des Rassebegriffs in der Gesellschaft; wenn er anhand verschiedener Geschirrformen für Rinder das steigende Interesse an physiologischen Untersuchungen dokumentiert oder wenn er die Anfänge eines modernen Tierschutzes anhand der Gesetzgebung in der Stadt Bern bezüglich der Zughunde beschreibt.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg werden Arbeitstiere allmählich ersetzt. In der mechanisierten und automatisierten Viehhaltung geht die Multifunktionalität verloren; geteerte Strassen und durchgehende Automobilität machen Transportarbeit durch Pferde und Rinder zusehends obsolet. Eine spezielle Entwicklung vollzieht sich bei den Pferden, die von Arbeits- zu «Heimtieren» zur Freizeitgestaltung mutieren. Tatsächlich gibt es in meinem Heimatdorf seit langem keine Zugpferde mehr – aber eine Pferderennbahn samt Gestüten und Reitschulen.

Buchcover von «Auf den Spuren der Arbeitstiere. Eine gemeinsame Geschichte vom ausgehenden 18. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts»
Hans-Ulrich Schiedt: «Auf den Spuren der Arbeitstiere. Eine gemeinsame Geschichte vom ausgehenden 18. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts». Chronos Verlag. Zürich 2024. 338 Seiten, mit über 100 Fotografien und Illustrationen. 48 Franken.