Türkei: Wohin mit Millionen Streunern?

Nr. 37 –

Tierschützer:innen und Opposition befürchten eine Massentötung von Strassenhunden – die Regierung hält dennoch an ihrem neuen Gesetz fest.

Demonstration gegen das Antistreunergesetz am 1. September in Istanbul
«Für ein Gesetz, das Leben schützt, anstatt zu töten»: Demonstration gegen
das Antistreunergesetz am 1. September in Istanbul.
Foto: Tolga İldun, Imago

Istanbul, Anfang September: Tausende Demonstrant:innen protestieren gegen ein neues Gesetz, das ihrer Ansicht nach landesweit zur Tötung Hunderttausender Strassenhunde führen wird. Auf Plakaten war zu lesen: «Notunterkünfte sind Todeslager» und «Zieht dieses blutige Gesetz zurück». Einige Demonstrant:innen hielten sich Hundemasken aus Papier vor ihr Gesicht. Gut 100 000 Personen haben bereits eine Onlinepetition gegen das Gesetz unterzeichnet. In dieser heisst es, die Regierung plane eine «Euthanasie».

Im Juli hatte das Parlament ein Gesetz verabschiedet, mit der die Zahl von geschätzt vier Millionen streunenden Hunden im Land reduziert werden soll. Tierschützer:innen und die Opposition befürchten eine riesige Massentötung – und bezeichnen das Gesetz als «Massakergesetz». Regelmässig gehen Tausende in Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara auf die Strassen, um den Erlass zu verhindern, der noch vom Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan unterzeichnet werden muss.

Schnell wachsende Population

Angehörige der Oppositionsparteien kündigten an, das Gesetz nicht anzuwenden – obwohl ihnen eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren droht. Das staatliche Vorhaben gegen streunende Hunde vertieft die ohnehin schon grossen politischen Gräben im Land. Die grösste Oppositionspartei, die CHP, hat bereits beim Verfassungsgericht Berufung eingelegt. Seit vergangener Woche prüft dieses deren Antrag.

Das neue Gesetz verpflichtet die Gemeinden dazu, streunende Hunde einzusammeln und in Tierheime zu bringen. Kranke Tiere sollen möglichst rasch eingeschläfert werden. Nach dem bisherigen Gesetz müssen die Behörden Strassenhunde sterilisieren – und sie dann wieder laufen lassen. Doch in vielen Teilen des Landes wird das seit Jahren nicht richtig umgesetzt.

Es war die AKP, die 2004 ein umfassendes Tierrechtsgesetz einbrachte. Dieses verbot das Töten streunender Hunde; Ausnahmen waren im «Tiergesundheitsuntersuchungsgesetz» festgehalten. In den vergangenen Jahren versuchte die Regierung, das schnelle Anwachsen der Streunerpopulation einzudämmen. Schätzungsweise 2,5 Millionen Hunde wurden in den letzten zwanzig Jahren kastriert. Obwohl die meisten harmlos sind, gibt es regelmässig Meldungen, wonach frei lebende Hunde Menschen angreifen würden. Bereits 2021 stellte die Türkei die Zucht und das Halten von Pitbulls und anderen als gefährlich eingestuften Rassen unter Strafe. Anlass waren damals ein tödlicher Angriff eines Hunderudels auf ein sechsjähriges Mädchen in der östlichen Provinz Van sowie zahlreiche weitere Berichte über Pitbulls, die Kinder angriffen. Gemäss einem Verein, der sich für das «Massakergesetz» einsetzt, sind seit 2022 mindestens 75 Personen, darunter 44 Kinder, durch Hundeangriffe oder von Hunden verursachte Verkehrsunfälle ums Leben gekommen – unter ihnen auch die neunjährige Tochter des Vereinsvorsitzenden.

Ahmet Senpolat, Tierrechtsanwalt und Gründer von Haytap, der grössten Tierrechtsorganisation des Landes, warnte vor der Behandlung im Parlament auf der Plattform X vor einem barbarischen Gesetz. Wie andere Aktivist:innen kritisiert er, dass es nicht auf die eigentliche Ursache der Überpopulation eingehe. So viele Hunde zu töten, sei keine Lösung, denn die Population werde einfach wieder wachsen, warnte Senpolat und nannte als eines der wirklichen Probleme die unkontrollierte Hundezucht und den Handel. «Sowohl die Zucht als auch der Handel sollten verboten werden, denn viele Menschen kaufen einen Hund und setzen ihn dann auf der Strasse aus», schrieb er auf X. Das Problem mit den streunenden Hunden, so argumentieren die Gegner:innen des neuen Gesetzes, sei das Ergebnis einer jahrzehntelangen Vernachlässigung des Tierschutzes sowie von korrupten und gewinnorientierten privaten Wohltätigkeitsorganisationen.

Staatspräsident Erdoğan jedoch hielt am Vorhaben seiner Regierung fest. «Ein grosser Teil der Gesellschaft möchte, dass dieses Problem so schnell wie möglich gelöst wird. Sie wollen, dass unsere Strassen für alle sicher sind – vor allem für unsere Kinder», sagte er im Mai vor dem Parlament. Der damals vorgestellte Gesetzesentwurf sah vor, Kommunen zu verpflichten, Strassenhunde und Katzen in Tierheime zu bringen – und selbst die gesunden unter ihnen einzuschläfern, wenn sie nach dreissig Tagen nicht vermittelt werden konnten. Der politische und gesellschaftliche Widerstand gegen diese Vorgabe war allerdings so gross, dass man sie abschwächte. Nun sollen nur kranke Tiere getötet werden.

Kein Geld für Tierschutz

Allerdings spricht man weder über die Finanzierung der chronisch schlecht dotierten Tierheime noch darüber, wer kontrollieren soll, ob ein krankes Tier getötet wurde. Gemäss offiziellen Zahlen gibt es in der Türkei nur 322 Tierheime. Diese sind schon stark überbelegt. Wie sie weitere Millionen Hunde aufnehmen könnten, ist schwer vorstellbar. Woher die klammen Kommunen das Geld nehmen sollen, um neue Tierheime zu bauen, bleibt ebenso ein Rätsel. Die Türkei ächzt seit Jahren unter einer schweren Wirtschaftskrise; Tierheime werden zu den letzten Orten gehören, wo öffentliche Gelder hinfliessen würden. Aktivist:innen befürchten deswegen nicht nur eine Massentötung, sondern auch das massenhafte Verhungern von Hunden in Heimen.