Ein Traum der Welt: Schöne Beschwörung
Annette Hug bei den Outsider:innen

Weil Trump und Trumpisches wieder die Nachrichten überrollt, ist es Zeit, einer Befürchtung nachzugehen: Ist Art brut unerträglich geworden? Vor etwa zwanzig Jahren konnte ich nicht genug kriegen von minutiös gezeichneten Städten in verschobenen Perspektiven und von gehäkelten, unmöglichen Maschinen. Der beste Ort dafür war die Collection de l’Art Brut in Lausanne, denn ihr hat Jean Dubuffet (1901–1985) seine Sammlung hinterlassen. Er meinte, bei besonderen Bewohner:innen von psychiatrischen Kliniken und anderen Aussenseiter:innen eine Kunst ohne Künstlichkeit gefunden zu haben, das Schöpferische, unversehrt von den Distinktionskämpfen der gelehrten Welt. Ausgerechnet in Zuständen, die man als «wahnsinnig» bezeichnete, vermutete er etwas universell Zugängliches – über kulturelle Grenzen hinweg.
So träumte Jean Dubuffet, und sein Traum bleibt mir, trotz berechtigter Einwände, sympathisch. Nun hat aber die Fähigkeit, sich eine alternative Realität zu bauen, seit der Coronapandemie an Charme eingebüsst. Die Gefahr, in Gesprächen nicht mehr zu wissen, wie man sich darauf einigt, wo zwischen Kapitalismuskritik, Deep State und Intuition eine gemeinsame Realität festzustellen wäre, ist anhaltend hoch, vernünftig zu sein eine tägliche Herausforderung.
Zu Besuch in der Collection de l’Art Brut bleibt der befürchtete Widerwille aus, denn niemand behauptet hier, die wahre Wissenschaft zu vertreten. Hier lässt sich sehr gut darüber nachdenken, wie man sich in grosser Not, mit fragmentarischen Informationen und ohne Überblick eine geistige Ordnung schafft – wie man damit umgeht, wenn sich eine solche Ordnung ergibt.
Ist das ein Geschenk? Eine Eingebung? Ein göttlicher Auftrag? Wobei sich auch die prophetische Möglichkeit ganz unterschiedlich ausdrückt: Da sind bedrängende Ansammlungen religiöser Symbole. Ganz anders die fast unendlich feinen und doch riesigen Tunnelkathedralen von Augustin Lesage (1876–1954), einem französischen Bergarbeiter. Immer neu hat er angesetzt, um ein helles Gewirr zu schaffen, das Ruhe ausstrahlt. Geblieben sind Werke, die Kräfte bannen, ohne sie zu erschlagen.
Und leise meine ich Jean Dubuffet lachen zu hören, wenn sich in Lausanne Guo Fengyi (1942–2010) und Madge Gill (1882–1961) begegnen. Letztere war eine Krankenpflegerin in London, die riesige Wandgemälde zeichnete und niemals das Ganze vor sich sah. Das Papier war nie vollständig ausgerollt, während sie ihre Motive weitertrieb (Gesichter, Schachbretter, Blumiges). Genauso arbeitete Guo Fengyi in der alten chinesischen Stadt Xi’an. Ihre Gemälde sind hoch, die weiblichen Figuren verdoppeln sich in sich selbst, da scheint ein haariges Kräuseln in neuen Dimensionen zu wuchern. Doch ausgerollt wirken die Werke von Guo und Gill, als habe da jemand eine ungeheure Vision vom Ganzen und von Fülle zu Papier gebracht.
Das Gefühl, in die Ausweglosigkeit einer zerstörerischen Denkmaschine gezwungen zu werden, stellt sich in dieser Sammlung nicht ein. Dafür sorgen all die Werke, in denen der Spieltrieb und die Freude am Material Überhand gewinnen. Ob das im Designmuseum von Lausanne (Mudac) anders wäre? Da haben sie gerade eine Ausstellung «We Will Survive – Die Prepper-Bewegung» eröffnet.
Annette Hug dankt der Übersetzerin Camille Luscher für die Führung in Lausanne. Mit dem Sprechen über Art brut sei es wie mit dem Übersetzen, hat sie gesagt, man finde keine perfekte Lösung, und deshalb breche das Gespräch nicht ab.