Ein Traum der Welt: Börse und Bohnen
Annette Hug sucht das Elementare

«Ist das Kunst?», fragte ein Schweizer Zollbeamter 1969. Er sollte die Einfuhr eines Werks bewilligen. Harald Szeemann hatte es bei Jannis Kounellis für eine Ausstellung in der Kunsthalle Bern bestellt. Der Zollbeamte sagte Nein. Das sei ein Handelsgut. Kounellis stellte in jenen Jahren zum Beispiel Kohle aus, direkt auf den Boden geleert.
Die Verweigerung der Einfuhr provozierte eine neue Installation, die gut ins Konzept des Kurators Szeemann passte: Künstler:innen sollten im Museum neue Werke schaffen («Wenn Haltungen Form annehmen» hiess das und wurde legendär). Jannis Kounellis füllte Jutesäcke mit Reis, Kaffee, Bohnen, Kartoffeln und stellte sie so auf, dass Besucher:innen hineinfassen konnten. Für spätere Ausstellungen wurden die Säcke mit neuem Material gefüllt. Jetzt sind sie in Paris zu sehen. Die ehemalige Warenbörse – Bourse de commerce – ist seit 2021 ein privates Kunstmuseum. Es trägt den Namen des Besitzers, François Pinault, geboren 1936 als Sohn eines Holzhändlers. Auch er begann in diesem Geschäft, heute ist er Multimilliardär. Seinen beiden Holdings gehören neben Gucci auch Versicherungen, Christie’s und der FC Stade Rennes.
1969 stand ein Grossteil des Berner Kunstpublikums dem Zollbeamten näher als dem Kurator, Szeemann sah sich bald nach der Ausstellung gezwungen, die Kunsthalle zu verlassen. Kounellis’ Jutesäcke sind in der Pinault Collection frisch mit Linsen, Maiskörnern, Kaffeebohnen und Kichererbsen gefüllt. Ein kleiner Drahtzaun sperrt sie ab, auf dem Boden steht: «Nicht anfassen». Andere Werke lassen sich von der neuen Umgebung nicht zähmen. Die Künstler:innen, deren Arbeit wie Kounellis’ in den 1960er Jahren als Arte povera bekannt wurde, traten gegen Konsumkultur und die Bezähmung von Kunst in Museen an. In der aktuellen Ausstellung wird die Schwerkraft ausgehebelt, wenn man vor einem Baum von Giuseppe Penone steht: Steine, die Tausende von Jahren in einem Fluss geschliffen wurden, liegen so in den Astgabeln auf, dass sie zu fliegen scheinen.
Jannis Kounellis kam 1936 zur Welt und wuchs im griechischen Piräus auf, wo sein Vater als Schiffbauingenieur arbeitete. Der Hafen als Umschlagplatz von Gütern hat ihn nie losgelassen: die Jutesäcke, der Stahl. In der Bourse de commerce bedeckt Jute auf riesigen Stahlregalen Vulkansteinbrocken, wie schützende Kappen. Im Begleittext steht etwas vom heiligen Franz. Die Zeitung «Le Monde» bespricht die Ausstellung im Wirtschaftsteil und fragt, wie es kommt, dass die späten Werke von Kounellis heute für bis zu 400 000 Euro die Hand wechseln. In der ehemaligen Warenbörse stehen sie unter einer Kuppel, die seit 1889 ein Panorama ziert: stilisierte Szenen des Welthandels mit Häfen, Schiffen, kolonialen Klischees. In der Bourse de commerce wurden einmal Handelspreise festgelegt, Existenzen begründet und ruiniert. Bis der Handel digital wurde und keinen zentralen Ort mit künstlicher Himmelskuppe und glorifizierender Malerei mehr brauchte.
Eine Kunststudentin hat im Museum den Job, Besucher:innen in ein Gespräch zu verwickeln. Sie ist begeistert, sieht ihre eigene Haltung in den Werken der Arte povera vorgeformt, spricht vom Ausstieg aus einer kapitalistischen Konsumgesellschaft, die den Planeten zerstört, von Achtung für das Elementare, das uns am Leben hält.
Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin, zurzeit in Paris. Die Ausstellung «arte povera», kuratiert von Carolyn Christov-Bakargiev, ist bis am 20. Januar zu sehen. Das Kunsthaus Zürich zeigt bis Ende 2025 Werke des Arte-povera-Künstlers Giuseppe Penone (Sammlung Looser).