«Reclaim Democracy»: Unser aller Gemeinwohl
Auslegeordnung linker Fragen und Denklaboratorium: Organisiert vom Debattenforum Denknetz, kreiste die «Reclaim Democracy»-Tagung in Zürich um das Konzept des Gemeinwohls durch eine Politik von unten.
Man konnte in hohe Sphären abheben: «Sozialismus für das 21. Jahrhundert» war in Zürich am Wochenende bei «Reclaim Democracy» eine der Veranstaltungen betitelt, immerhin, natürlich, mit einem Fragezeichen versehen.
Sozialismus sollte wohl als Chiffre gelten für ein besseres Leben, eine bessere Gesellschaft. Jedenfalls liess sich das Podium mit SP-Kopräsident Cédric Wermuth, Kulturwissenschaftlerin Patricia Purtschert, Mia Jenny, Sekretärin der SP queer, sowie dem Philosophen Beat Dietschy bereitwillig auf die Bedeutung des Begriffs für die eigene politische Sozialisierung ein. Dazwischen outeten sich bei einer dieser Partizipationsaktionen eine Menge Leute durch basisdemokratisches Armeschütteln als «sozialistisch engagiert».
Das Denknetz stellte mit «Reclaim Democracy» einen anderen Begriff ins Zentrum: Demokratie. Die es zu erweitern gilt. Dazu gesellt sich dann die Freiheit – wobei die Philosophin Eva von Redecker in einem Vortrag fulminant davor warnte, sich damit neoliberalen Vorstellungen auszuliefern. Sie propagierte dagegen ihr Konzept von der «Bleibefreiheit» – der Möglichkeit, an einem Ort zu bleiben, um die Lebensgrundlagen zu erhalten. Womit «Bleibefreiheit» nicht nur die Vereinzelung verhindere, sondern die gemeinsame Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft fördere.
Die diesjährige Ausgabe von «Reclaim Democracy», die dritte seit 2017, umfasste rund fünfzig Veranstaltungen. Das Programm war zuerst einmal eine beeindruckende Auslegeordnung linker, alternativer Anliegen und Fragen und dann in manchen Fällen ein Denklaboratorium.
Konkreter Sozialismus
So verlief die Diskussion zum Sozialismus einiges konkreter, als der Titel vermuten liess, zeigte auch Prioritäten im linken Engagement auf, allgemein formuliert, aber zumeist am Beispiel erläutert: Die Vernunft gegen die Zerstörungen durch Machtdenken und Entwürdigungen einsetzen. Gemeinsames Zusammenleben und das Denken in Alternativen aufrechterhalten. Radikale Selbstbestimmung bei gegenseitiger Wertschätzung pflegen. Und: Autonome Befreiungspraxis mit breiterer Bündnispolitik verbinden.
Die scharfe Analyse und die vehemente Kritik der bestehenden Verhältnisse waren vorangegangen. Zuerst die Klimakatastrophe, dann die Rechtswendung allüberall, der Rechtspopulismus (dazu vielleicht auch der deutsche Linkspopulismus) und der Rechtsextremismus bis hin zur Faschisierung.
Positiv zogen sich zwei Stichworte durch die Tagung: «gemeinschaftlich» und «von unten». Dem Anspruch, von der Basis her zu wirken, jenseits von Organisationen ebenso wie in diesen selbst, kann sich kaum jemand entziehen. Gewerkschaftsaktivistin Migmar Dolma, SP-Politiker Chompel Balok und Historiker Cenk Akdoğanbulut versprachen, die Linke «aus der Perspektive von unten» zu beleuchten. Im frei schwebenden Gespräch meinte das Geringverdienende, Ausländer:innen, Migrant:innen, die «Unterschicht». Alle drei beklagten aus eigener Erfahrung institutionelle Schranken selbst in der SP und in den Gewerkschaften. Der Ansatzpunkt beim Alltag führt aber notwendig in klar benannte Ambivalenzen: Wie soll einem Autoposer erklärt werden, dass er sein mit handwerklicher und selbstbestimmter Kompetenz verschönertes Auto aufgeben sollte, um den Planeten zu retten?
Das Begriffsfeld des «Gemeinschaftlichen» muss demgegenüber zuerst von konservativen, ständischen, ja völkischen Assoziationen befreit werden. Dann können das Gemeinwohl, können Gemeingüter und Commons, gemeinsame Teilhabe und Aktivität durchbuchstabiert, erprobt, gelebt – und auch kritisiert und verbessert werden.
Zwanzig Jahre Theoriearbeit
Die diesjährige Tagung war zugleich eine Feier zum 20. Geburtstag des Denknetzes. Der Name war und ist Programm, das Projekt von Beginn an parteiübergreifend angelegt, mit den Gewerkschaften verbunden und mit den sozialen Bewegungen im zunehmend intensivierten Kontakt. Die offiziellen Geburtstagsgrüsse überbrachten Balthasar Glättli und Jacqueline Badran, die gerade diese parteiübergreifende und wissenschaftlich fundierte Unterstützung feierten und weiter forderten.
Gegenwärtig zählt das Denknetz 1500 Mitglieder, neben der sporadischen «Reclaim Democracy»-Tagung werden pro Jahr rund zehn Veranstaltungen organisiert und das «Denknetz Jahrbuch» herausgegeben. Kernpunkt sind aber, wie Mitinitiant Andreas Rieger erläuterte, die Arbeitsgruppen zu diversen Themen, auch sie möglichst breit angelegt. Das bleibt Theoriearbeit, die dann praxisanleitend sein mag, Denkinitiativen lanciert, etwa zur Lebenserwerbszeit, zum Service public oder zum Umbau der Pharmaindustrie. Aber in den politischen Nahkampf begibt sich das Denknetz nicht und will es sich auch nicht begeben.
Doch wie steht es um die an der Tagung so dringlich geforderte und nötige alternative Erzählung gegenüber dem herrschenden Diskurs? Dass es die eine, grosse Erzählung nicht mehr geben kann, ist klar. Dennoch braucht es eine Klammer. Womit wir wohl wieder beim Gemeinwohl angelangt sind. Samt der Solidarität als entsprechender Aktivität.
Ach ja: Die «Demokratie-Initiative» für solidarische Einbürgerungen von Ausländer:innen braucht dringlich weitere Unterschriften, damit sie nicht scheitert.