«Toxic Pharma»: Demokratische Pillen

Nr. 4 –

Für die Menschen und nicht für den Profit: Eine Arbeitsgruppe des Thinktanks Denknetz fordert den Umbau der Pharmaindustrie.

Das dicke Geschäft: Wenn die Herstellung eines Medikaments 500 Franken pro Therapie kostet, die Therapie dann aber 50 000, kann etwas nicht stimmen.

WOZ: Erika Ziltener, Sie sind Mitglied der Eidgenössischen Arzneimittelkommission, die das Bundesamt für Gesundheit in Medikamentenfragen berät. Wie erleben Sie dort den Einfluss der Pharmaindustrie?
Erika Ziltener: Ein grosses Problem sind die oft fehlenden oder mangelhaften Studien zu Krebsmedikamenten. Als Patientenvertreterin muss ich immer fragen: Nützt das Medikament, oder nützt es nicht? Bei vielen neuen Medikamenten ist der Nutzen ungenügend nachgewiesen. Wer sich dann gegen das Medikament ausspricht, dem wird vorgeworfen, er wolle Patientinnen und Patienten ihre wichtige Behandlung vorenthalten.

Man muss sich immer vor Augen führen, dass es bei Arzneimitteln um die Heilung von kranken Menschen geht. Dadurch sind Debatten um die Zulassung immer emotional aufgeladen. Menschen knüpfen oft grosse Hoffnungen an ein Medikament. Diesen Druck spüren wir enorm.

Sie haben im Rahmen einer Arbeitsgruppe des linken Thinktanks Denknetz das Arbeitspapier «Toxic Pharma» mitverfasst. Was wollen Sie mit dem Titel sagen?
Wir haben diesen etwas drastisch klingenden Titel gewählt, um darauf aufmerksam zu machen, dass mit dem heutigen Einfluss der Pharmaindustrie ziemlich viel falsch läuft. Die Pharmafirmen nutzen ihre Quasimonopolstellung, um möglichst hohe Preise durchzusetzen – was zu massiven Kosten im Gesundheitswesen führt. Deswegen braucht es eine radikale Kursänderung.

Wo sehen Sie zurzeit die grössten Probleme?
Die Pharmaindustrie arbeitet gewinnorientiert. Daraus ergibt sich ein Rattenschwanz von Problemen. Die Kluft zwischen den Bedürfnissen der Bevölkerung und dem, was die Pharmaindustrie tatsächlich produziert, ist riesig. Ein Beispiel: Medikamente gegen Krankheiten, die selten oder vor allem in armen Ländern verbreitet sind, werden nur wenig erforscht. Gibt es keine kaufkräftige Nachfrage, besteht auch kein Interesse seitens der Pharma. Und vielfach werden Medikamente auf den Markt gebracht, deren Nutzen nur ungenügend belegt ist. Ein weiteres Problem liegt darin, dass die Erforschung der Langzeitfolgen von Medikamenten für die Pharma ökonomisch uninteressant ist.

Als Beispiel bringen Sie in Ihrem Papier das Hepatitismedikament Sovaldi der US-Firma Gilead. Die Herstellungskosten betragen pro Therapie weniger als 500 Franken. In der Schweiz verlangt der Konzern für eine Therapie aber mehr als 50 000 Franken. Wie kommen solche Preise zustande?
Die Pharmaindustrie begründet die hohen Preise mit der kostenintensiven Forschung und Entwicklung. Eine neuere Studie aus den USA zeigt jedoch, dass die Kosten weit tiefer sind. Die These, dass die hohen Kosten Forschung und Entwicklung widerspiegeln, wurde von der Pharmaindustrie so lange wiederholt, bis sie glaubhaft schien, aber die geforderte Transparenz wird nicht geliefert. Die Öffentlichkeit und Fachverbände üben auf das Bundesamt für Gesundheit Druck aus, die Kosten für das Medikament für alle zu übernehmen oder einen tieferen Preis auszuhandeln. Tatsächlich ist der Verhandlungsspielraum des Bundesamts aber begrenzt. Aber weshalb richtet sich der Druck nicht gegen den Hersteller Gilead?

Was wollen Sie ändern?
Das Problem ist struktureller Natur. Wir vom Denknetz wollen, dass die demokratische Einflussnahme auf die Pharmaindustrie ausgedehnt wird. Forschung und Entwicklung müssen einer demokratischen Kontrolle unterliegen. Es braucht eine massive Regulierung der Pharmaindustrie.

Wie stellen Sie sich das konkret vor?
In unserem Papier haben wir den Vorschlag eingebracht, dass der Bund ein Konsortium einrichtet. In diesem würden verschiedene Vertreterinnen und Vertreter der gesundheitlichen Fachverbände sitzen, jedoch keine der Pharma. Unabhängig von Renditedenken müsste festgelegt werden, was und in welche Richtung geforscht wird. Der gesamtgesellschaftliche Nutzen stünde im Vordergrund und nicht mehr der maximale Gewinn für die Pharmaindustrie. Medikamente dürften dann nur noch nach den Vorgaben dieses Konsortiums produziert werden.

Auch das Patentrecht müsste fundamental reformiert werden. Ein Ansatz wäre, das Patentrecht ganz abzuschaffen, eine andere Möglichkeit wären offene Patente, wie wir sie beispielsweise aus dem Bereich der Open-Source-Software kennen.

Ihr Lösungsvorschlag trägt beinahe sozialistische, planwirtschaftliche Züge.
Mich interessiert, was den Patientinnen und Patienten nützt. Die Pharmaindustrie mit ihrem nicht funktionierenden Markt treibt unser Gesundheitssystem an den Rand des Kollapses. Ob die Lösungsansätze nun als planwirtschaftlich bezeichnet werden, ist für mich unwichtig.

Die Pharmaindustrie ist einer der bedeutendsten Wirtschaftssektoren in der Schweiz. Von bürgerlicher Seite wird man Ihnen vorwerfen, Sie würden mit Ihrer Regulierung dem Wirtschaftsstandort Schweiz schaden.
Die bereits bestehende Infrastruktur sehe ich als Chance und nicht als Hindernis. Zwei der grössten Pharmafirmen der Welt haben ihren Sitz in Basel. Demokratische Kontrolle bedeutet nicht, dass Arbeitsplätze vernichtet werden. Was sich durch eine demokratisierte Forschung und Entwicklung ändern würde, wäre jedoch die Ausrichtung der Forschung. Im Gegensatz zu heute würde man an Medikamenten forschen, die so vielen Menschen wie möglich helfen und nicht nur den finanzkräftigsten.

Die Gewinne der Pharmaindustrie würden jedoch massiv beschnitten. Dies hätte vermutlich einen Wegzug der Pharmaindustrie aus der Schweiz zur Folge.
Ich nehme diese Drohung gelassen. Wenn wir die Pharmaindustrie in einen Service public umbauen, können wir die vorhandenen Ressourcen wie Geld, Fachwissen, Forschung und Entwicklung nutzen und attraktive Arbeitsplätze anbieten.

Wie lässt sich ein politischer Kampf gegen die Pharma führen?
Wir müssen auf zwei Ebenen kämpfen, um die Menschen in der Schweiz für die Probleme zu sensibilisieren, die durch die Pharma verursacht werden. Kurzfristig müssen nach wie vor Preiskämpfe geführt werden. Wir müssen einfordern, dass Medikamente vor der Einführung besser untersucht werden, und uns auch gegen indirekte Werbung – etwa in Gesundheitssendungen und Medizinzeitschriften – wehren. Auch jetzt können wir bereits Transparenz bei der Preisgestaltung fordern.

Längerfristig müssen wir jedoch an einem fundamentalen Umbau der Pharmaindustrie arbeiten. Unser Arbeitspapier liefert hierzu einen Beitrag.

Was kann man im internationalen Bereich tun?
Es braucht eine bessere internationale Zusammenarbeit von nicht renditeorientierten Akteuren im Gesundheitswesen. Die Weltgesundheitsorganisation der Uno ist eine wichtige staatenübergreifende Institution. So idealistisch es klingt: Alle Akteure, die sich weltweit für eine demokratisierte Forschung und Entwicklung im Bereich Pharma einsetzen, müssen zusammenspannen.

Erika Ziltener.

Wen wollen Sie mit Ihrem Papier erreichen?
Alle. Uns geht es darum, das Problem von Big Pharma in seinem ganzen Ausmass darzulegen. Das Papier soll aufrütteln. Es soll eine Diskussion auslösen, die nicht nur an der Oberfläche bleibt. Immer wieder wird in den Medien über vollkommen überteuerte Medikamente gesprochen. In solchen Debatten werden überrissene Preise zwar skandalisiert, meistens bleiben sie jedoch sehr oberflächlich. Wir wollen diese Probleme an der Wurzel packen. Deswegen fordern wir eine Art Service public im Pharmabereich. Wie gesagt: Die Pharmaindustrie soll allen zugutekommen.

Erika Ziltener

Die diplomierte Pflegefachfrau und Historikerin Erika Ziltener, geboren 1955, ist seit 2001 Präsidentin des Dachverbands Schweizerischer Patientenstellen und leitet die Patientenstelle Zürich. Von 1998 bis 2015 sass sie für die SP im Zürcher Kantonsrat.

Erika Ziltener ist Mitglied der Eidgenössischen Arzneimittelkommission, die das BAG dabei berät, welche Medikamente von der Grundversicherung übernommen werden sollen.

«Toxic Pharma»

In ihrem Arbeitspapier «Toxic Pharma» zeigt die Fachgruppe Big Pharma des linken Thinktanks Denknetz Ansätze auf, um die hohen Medikamentenpreise in den Griff zu bekommen. Sie plädiert für einen global vernetzten Service public im Bereich der Pharmaindustrie. Ziel ist es, die Forschung und Entwicklung im Bereich der Pharma einer demokratischen Kontrolle zu unterstellen. Anstatt maximaler Profite sollen die medizinischen Bedürfnisse der Menschen in den Vordergrund gerückt werden.

Zur Fachgruppe gehört auch der bekannte Tessiner Onkologe und SP-Altnationalrat Franco Cavalli. Am Donnerstag, 2. Februar, findet im Rahmen der Konferenz «Reclaim Democracy» (vgl. «Demokratie zurückfordern» ) ein Workshop zu «Toxic Pharma» statt.