«Reclaim Democracy» : «Lügen gilt heute als Widerständigkeit»
Nächste Woche findet zum zweiten Mal der vom «Denknetz» veranstaltete Kongress «Reclaim Democracy» statt. Die Soziologin Silke van Dyk spricht dort über die Systematik rechter Lügen.
WOZ: Frau van Dyk, Sie werden zum ersten Mal bei «Reclaim Democracy» dabei sein. Was erwarten Sie vom Kongress?
Silke van Dyk: Ich habe ihn vor drei Jahren aus der Ferne wahrgenommen. Und ich finde, dass er eine beträchtliche Strahlkraft hat, weil er unterschiedliche emanzipatorische und linke Perspektiven aus Wissenschaft und Aktivismus zusammenbringt.
Was aber lässt sich denn konkret bewirken, wenn 3000 Linke an einem Ort zusammenkommen?
Ich glaube, dass «Reclaim Democracy» aus verschiedenen Gründen relevant und auch vielversprechend ist: Am Kongress wird nicht nur Bekanntes rezipiert, sondern im Rahmen von Ateliers wird auch kontrovers und handlungsorientiert diskutiert. Kommt hinzu, dass es aktuell sehr wichtig ist, über Demokratie zu reden. Es gibt derzeit schliesslich kaum ein umkämpfteres Thema.
Wie meinen Sie das?
In Deutschland hatten wir ja gerade die grosse Aufregung mit Thüringen, wo sich ein FDP-Politiker mit den Stimmen der demokratiefeindlichen AfD zum Ministerpräsidenten wählen liess. Die liberale Demokratie ist nicht nur dort in neuer Weise von rechten Kräften bedroht. Gleichzeitig stellt sich mit dem Klimawandel, der am Kongress ein Schwerpunkt sein wird, eine riesige Herausforderung für die Demokratie: Wie bewältigt man den sofort nötigen Systemwandel in den oft langsamen Mühlen demokratischer Prozesse?
Was heisst das für die Linke und ihr Demokratieverständnis?
Für die linken und emanzipatorischen Kräfte ist diese Situation, in der die demokratischen Grundmaximen von Rechten und Neurechten so stark zur Debatte gestellt werden, relativ neu. Sie haben zuvor eher die Probleme der liberalen Demokratien betont und aufgezeigt, in welchen Punkten diese Form des Regierens faktisch undemokratisch ist – und zwar immer dann, wenn mit dem Verweis auf Sach- und Marktzwänge der politische Streit ausgehebelt wird. Die Linken haben also bislang immer gegen das Mantra der Alternativlosigkeit angekämpft. Nun steht man aber vor einer neuen Herausforderung: Wie lassen sich die eigenen Perspektiven bewahren, wenn man gleichzeitig in sehr breiten politischen Bündnissen die Fundamente der liberalen Demokratie gegen Rechts verteidigen muss? Wie kann man weiterhin dafür kämpfen, die existierende Demokratie tatsächlich zu demokratisieren?
In Ihrem Atelier wird es um die «neue Konjunktur der Lügen in der Politik» gehen. Was heisst das genau?
Wir nehmen rechte Begriffe wie «Fake News» oder «Lügenpresse» in den Blick und diskutieren das, was ich als «Krise der Faktizität» bezeichne. Gelogen wurde in der Politik schon immer. Neu ist aber, dass rechte und rechtspopulistische Kräfte die Wahrheit dehnen oder explizit lügen, ohne dass es ihnen unmittelbar schadet. Das Lügen wird von rechten und populistischen Kräften heute erfolgreich als Widerständigkeit gegen die sogenannten Systemkräfte dargestellt. Gegen den «Mainstream», gegen liberale Akteure. Im Lügen liegt also eine neue Bedeutung. Die Rechten und Neurechten behaupten zudem, das «wahre», das «richtige» Volk zu verkörpern. Weil sie aber empirisch betrachtet meist nur etwa ein Viertel der Bevölkerung repräsentieren, haben sie eine strukturelle Affinität zu Lügen und Verschwörungstheorien. Diese grundsätzliche Funktion des Lügens wird oft übersehen.
Als Soziologieprofessorin an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, wo derzeit zu Postwachstumsgesellschaften geforscht wird, arbeiten Sie auch am Thema «Klima- und Systemwandel». Auch auf diesem umkämpften Feld spielen Lügen eine wichtige Rolle …
… wobei Klimaleugner am rechten Rand nicht das einzige Problem sind. Die wenigsten Grosskonzerne oder liberalen Politiker leugnen dezidiert den menschengemachten Klimawandel. Trotzdem bekämpfen sie ihn nicht wirkungsvoller. Ich glaube, das ist noch gefährlicher: Auf einer Ebene wird das Problem anerkannt, auf einer anderen aber die notwendige politische Wende verhindert, in deren Zentrum die Wachstumsfrage stehen würde.
Es braucht also viel grösseren Druck auf den Status quo?
Auf jeden Fall. In Thüringen sahen wir, dass der Druck der Strasse nicht ohne Wirkung bleibt. CDU und FDP mussten erkennen, dass sie nicht damit durchkommen, die Fortsetzung einer Linksregierung durch einen Pakt mit der AfD zu verhindern. Um solchen Druck aufrechterhalten zu können, braucht es auch an anderen Orten und bei anderen Gelegenheiten den Austausch zwischen Wissenschaft, NGOs und aktivistischen Zusammenhängen – und genau das passiert bei «Reclaim Democracy».

«Reclaim Democracy» findet vom 27. bis zum 29. Februar 2020 statt. Schwerpunkte der über sechzig Veranstaltungen sind Klimapolitik, soziale Kämpfe und kritische Öffentlichkeit. Weitere Infos: www.reclaim-democracy.org.