Literatur: Im Land der Finsternis
Das Erlebte lässt sich nicht besiegen: Neige Sinnos autobiografischer Roman «Trauriger Tiger» legt die Systematik familiärer Gewalt offen – und versucht, ihrer Logik zu entkommen.

Warum ein Buch, das den Abgrund der jahrelangen Vergewaltigung eines Kindes auslotet, mit dem Porträt des Vergewaltigers beginnen? Neige Sinno hat auf die Frage der Moderatorin im Literaturhaus Zürich Anfang September eine Antwort zur Hand, die klarmacht, dass sie mit ihren Leser:innen – und damit möglicherweise ebenfalls Gewaltbetroffenen – einen Pakt eingeht: Sie wolle nicht, dass jemand beim Lesen ihres Buches durch die schwer auszuhaltende Gewalt überrascht werde. Wer «Trauriger Tiger» liest, soll von Beginn an wissen, worum es geht. Gewiss hat Sinnos Entscheidung auch damit zu tun, mit dem Täter gleich denjenigen an den Anfang stellen zu wollen, der die alleinige Verantwortung für das Geschehene trägt.
«Trauriger Tiger», dessen Manuskript fünfzehn französische Verlage zunächst abgelehnt hatten, stand im letzten Jahr in Frankreich monatelang auf der Bestsellerliste. Es gewann den Prix Femina und stand auf der Shortlist für den Prix Goncourt. Gerade mit diesem Buch bekannt zu werden, löse ambivalente Gefühle in ihr aus, sagte Sinno in Zürich. Lieber wäre sie als mexikanische Autorin, die experimentelle Literatur schreibt, ins gesellschaftliche Gedächtnis eingegangen.
Orte und Gerüche
Neige Sinno wurde im Alter von sechs oder sieben oder acht Jahren, bis sie vierzehn war, von ihrem Stiefvater vergewaltigt. Wann genau er mit seinen Verbrechen begonnen hat, kann sie nicht sagen. Die Heldin des Buches, die gleichzeitig Kind, Erwachsene und Leserin ist, vermag die Anfänge aber über Erinnerungen an bestimmte Orte und Gerüche einzugrenzen: «Ich erinnere mich an die erste Wohnung, in der wir lebten, an den langen Gang, über den man ins Badezimmer kam, an einen grau-blauen Teppichboden, daher kann ich heute den Beginn des Missbrauchs viel genauer datieren als damals, als ich Anzeige erstattete.»
Mit zwanzig Jahren zeigte Sinno ihren Stiefvater an, ihre Freund:innen hatten sie dazu ermutigt. Selbst eine Gegnerin der Gefängnisstrafe, tat sie es in erster Linie, um ihre jüngeren Geschwister zu schützen, die zusammen mit der Mutter noch immer beim Stiefvater lebten. Ihr eigenes und das Anzeigeschreiben ihrer Mutter sind im Buch abgedruckt: «Ich mit meinem klaren Stil und meiner Kritzelschrift, meine Mutter mit ihrer schönen Lehrerinnen-Kalligrafie, wie sie so typisch ist für Leute, die nicht die Sekundarstufe besucht haben.» Sinno lässt auch andere Dokumente wie Zeitungsartikel und Gerichtsakten einfliessen, die von ihrer Geschichte erzählen und sie somit ein Stück weit fassbarer machen.
Die Autorin verzichtet weitgehend darauf, die erfahrene Gewalt explizit zu beschreiben. Stattdessen tritt sie mit literarischen Werken in einen Dialog, die sich – reflektiert oder unreflektiert – mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzen, oder leiht sich Bilder von Dichterinnen wie Alejandra Pizarnik, um die fragmentarische Erinnerung an ihre Kindheit verständlich zu machen: «Ich erinnere mich an meine Kindheit / Als ich eine alte Frau war […] Ich erinnere mich an die schwarzen Morgensonnen / Als ich Kind war / Also gestern / Also vor Jahrhunderten».
«Trauriger Tiger» ist ein genaues Buch. Die beiden Teile – «Porträts» und «Gespenster» – sind entlang einzelner Unterkapitel strukturiert, in denen Sinno vom Schweigen in der Familie erzählt, Überlegungen zu den Nachwirkungen des Traumas anstellt und immer wieder literarische Analysen vornimmt. Im autobiografischen Schreiben sieht Sinno eine «Waffe, um sich dem Undenkbaren zu stellen», sich der eigenen Erfahrung anzunähern. Dennoch klopft sie die Sprache immer wieder auf deren Tauglichkeit für Klarheit ab: «Ich bin mir nicht sicher, dass mir das Buch irgendetwas bringt, sei es als Mensch oder als Schriftstellerin.» Und: «Wenn ich es weder für mich noch für die anderen schreibe, wozu dann überhaupt?»
Mit der Tochter sprechen
Die Stärke von «Trauriger Tiger» liegt in der Konsequenz, mit der Sinno erzählt und über die erlebte Gewalt nachdenkt. Sie porträtiert den Täter, den Vater, die Mutter und ihre Geschwister, aber auch sich selbst und die eigene Herkunft. Die Porträts fügen sich so zu dem eines ganzen Umfelds und damit auch einer Gesellschaft zusammen, die darin versagen, Kinder vor intrafamiliärer Gewalt zu schützen. Sinno legt die Systematik dieser Gewalt offen und versucht, ihrer Logik zu entkommen. Der gesellschaftlichen Obsession mit den Tätern stellt sie die echten Held:innen entgegen. «Ich und meinesgleichen, keine sehr glamourösen Helden und Heldinnen, vielleicht sogar Antihelden, die ihren kleinen Lebensraum verteidigen», schreibt sie. «Wir lösen mit unseren kleinen Händen das Muster des Schweigens auf, dröseln geduldig die hartnäckigsten Knoten auf.»
Besonders in der zweiten Hälfte des Buches stellt die Autorin analytische Überlegungen zum Trauma an, das sie als «Land der Finsternis» bezeichnet, das jederzeit in die Gegenwart einbrechen kann. Ihr Wissen gibt Sinno an ihre zehnjährige Tochter weiter, mit der sie – auch als Präventionsmassnahme – über das Trauma zu sprechen gelernt hat. Ebenso teilt sie es mit uns Leser:innen. Das Erlebte, macht Sinno klar, lässt sich nicht besiegen. Es geht darum, der Faszination für Täter und Gewalt den Ausweg der Sanftheit entgegenzusetzen.
