Standpunkt von Tarek Naguib: Jetzt erst recht!
Seit Jahrzehnten weigert sich die Schweiz, gewisse Forderungen zum Schutz der Menschenrechte anzuerkennen. Nun wollen Bundespolitiker:innen gar die Unabhängigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte untergraben. Ein Plädoyer für ein Schweizer Menschenrechtsgesetz.
Es war kurz vor den Sommerferien, als – auf Initiative von SP-Ständerat Daniel Jositsch – zuerst der Ständerat und dann der Nationalrat erklärte: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) würde durch sein Urteil zur Beschwerde der Klimaseniorinnen «die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung» durch ein internationales Gericht «überstrapazieren». Das Parlament machte dem Gerichtshof mit grosser Mehrheit den Vorwurf des «unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus».
Anfang September folgte der Bundesrat: Er unterstützte nicht nur die beiden Räte mit einer Stellungnahme, er empfahl zudem nur Tage danach einen politischen Frontalangriff von FDP-Ständerat Andrea Caroni auf den Gerichtshof zur Annahme. Caronis Motion fordert den Bundesrat auf, zusammen mit weiteren Mitgliedern des Europarats ein Zusatzprotokoll auszuhandeln, das dem EGMR klare Leitplanken setzt. In der Sondersession dieser Woche forderte die SVP gar, die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Mit anderen Worten: Die gesetzgeberischen und regierenden Gewalten dieses Landes möchten die Richter:innen in Strassburg zwingen, nicht mehr nach rechtswissenschaftlichen Kriterien zu entscheiden – sondern unter dem Damoklesschwert von politischen Sensibilitäten und Willkür.
Strassburg sei Dank
Die Folgen eines solchen Bumerangs könnten dem Menschenrechtssystem erheblichen Schaden zufügen. Der EGMR hat in den letzten fünfzig Jahren massgeblich dazu beigetragen, dass das Schweizer Recht für die Menschen in vielen Belangen besser wurde. So wurden zum Beispiel wichtige Impulse zur Stärkung des Rechts auf ein faires Verfahren gegeben. Asbestopfer haben etwa dank eines Urteils des Gerichts aus Strassburg Zugang zu Schadenersatzforderungen; ebenso ist es dem EGMR zu verdanken, dass Beschwerden bei Sorgerechtsstreitigkeiten möglich sind oder die unverhältnismässige Verfahrensdauer vor Schweizer Gerichten reduziert wurde. Die Praxis des EGMR hat ausserdem die Vereinheitlichung der Strafprozessordnung beeinflusst und die Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit gestärkt. Dazu gehören etwa der Anspruch auf eine Pflichtverteidigung für angeklagte Personen und die Befreiung von Verfahrenskosten für Angeschuldigte, die freigesprochen werden. Mit der Totalrevision der Bundesverfassung wurden zudem Garantien im Verfahren vor Gerichten und im Freiheitsentzug verankert.
Tarek Naguib
Tarek Naguib, Jurist mit Schwerpunkt Diskriminierungsschutz, ist Mitbegründer von neuen Organisationen der postmigrantischen Transformation wie dem Institut Neue Schweiz, der Aktion Vierviertel und der Allianz gegen Racial Profiling. Seit August 2023 arbeitet er als Koordinator der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz.
Diese Anpassungen im Schweizer Recht zum Schutz der Menschen vor behördlicher Willkür waren nur möglich, weil die Richter:innen am EGMR ihre Urteile unabhängig fällen konnten. Wird ihre Position geschwächt, hat das nicht nur innerhalb der Schweiz negative Konsequenzen – damit würde auch bewusst in Kauf genommen, dass die Menschenrechte in anderen Staaten und auf internationaler Bühne noch mehr zum politischen Spielball werden. Die Schweiz würde somit aber auch die eigene Glaubwürdigkeit in der Aussenpolitik aufs Spiel setzen – auch bezüglich ihrer Kandidatur für den Uno-Menschenrechtsrat für die Periode 2025 bis 2027, über die die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 9. Oktober abstimmen wird. Sollte die Schweiz aufgenommen werden, und davon ist auszugehen, stellt sie sich voraussichtlich gleich als Vorsitz für das kommende Jahr zur Wahl. Wie aber will und kann sie die Mitglieder der Uno dazu bewegen, die Menschenrechte besser zu respektieren, wenn sie selbst nicht dazu bereit ist?
Anstatt die Menschenrechte zu untergraben, sollten sich Bundesrat und Parlament daranmachen, diese umzusetzen.* Und da hat die Schweiz entgegen ihrer eigenen Erzählung grosse Hausaufgaben zu erledigen. Seit Jahren weigert sie sich, menschenrechtswidrige Aktivitäten multinationaler Konzerne zu sanktionieren, ein Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung einzuführen, die Polizeigewalt mit funktionierenden Beschwerdemechanismen zu unterbinden oder die Menschenrechte in Freihandelsabkommen zu verankern.* Das sind nur wenige Beispiele aus dem langen Katalog an Versäumnissen, die von internationalen Gremien wiederholt kritisiert werden. Hinzu kommt, dass die Schweiz sich erfolgreich weigert, genügend Ressourcen zu schaffen, um die Koordination der Umsetzung der Menschenrechte zu ermöglichen. Wie wenig die Politik hierzulande die Menschenrechte ernst nimmt, zeigt sich auch im spärlichen Budget der im letzten Jahr geschaffenen Schweizerischen Menschenrechtsinstitution (SMRI): Anstatt der fünf Millionen Franken, die gemäss internationalen Standards für eine funktionsfähige Institution solcher Art mindestens notwendig wären, stehen der SMRI gerade mal eine Million Franken pro Jahr zur Verfügung.
Gegen die Entmenschenrechtlichung
In diesen Zeiten der politischen Entmenschenrechtlichung dürfen sich die liberalen Kräfte nicht auf kontraproduktive Scheinabwehrkämpfe gegen die schlimmsten Rückschritte beschränken, wie es Jositsch und Caroni gerade tun. Vielmehr braucht es mehr Engagement für politische Projekte, die die Menschenrechte nachhaltig stützen. Ein erster Schritt könnte der Einsatz für die Schaffung eines nationalen Rahmengesetzes zur Umsetzung der Menschenrechte in der Innen- und Aussenpolitik sein. Darin verankert wären wiederum die Grundsätze der Menschenrechte, eine Pflicht zum Erlass einer übergreifenden Menschenrechtsstrategie sowie die Einführung eines Querschnittsorgans in der Bundesverwaltung, das die Umsetzung der Menschenrechte koordiniert. Mit der Einführung eines solchen Menschenrechtsgesetzes wären zudem Pflichten zu einer systematischen Menschenrechtsverträglichkeitsprüfung sowie ein nationales Monitoring verbunden.
Auch wenn die aktuellen politischen Verhältnisse wenig Hoffnung machen: Es lohnt sich, bereits jetzt darüber nachzudenken, wie ein zukunftsfähiges Menschenrechtsland Schweiz aussehen könnte.
* Korrigenda vom 27. September 2024: In der gedruckten Ausgabe sowie in der ursprünglichen Onlineversion ist uns beim Redigieren ein Fehler unterlaufen: Dort platzierten wir den Begriff «Freihandelsabkommen» an der falschen Stelle. So schrieben wir fälschlicherweise, Bundesrat und Parlament sollten sich daran machen, die Menschenrechte «in den Freihandelsabkommen umzusetzen». Der Autor meinte aber richtigerweise, dass sich die Schweiz seit Jahren weigere, «die Menschenrechte in Freihandelsabkommen zu verankern». Wir entschuldigen uns für diesen Fehler.