«Minelli contre Suisse»: Es begann mit einem simplen Branchentelefonbuch

Nr. 15 –

Ludwig A. Minelli hat mit Beschwerden bis nach Strassburg unter anderem bewirkt, dass Nichtschuldigen seit 1983 nur noch bedingt Verfahrenskosten auferlegt werden dürfen. Ein erstes Beispiel dafür, wie nötig der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist.

«Die Menschenrechtsgeschichte beginnt bei mir am 29. November 1973 um 20 Uhr im Zunfthaus zur Zimmerleuten in Zürich», erzählt Ludwig A. Minelli beim Tee in seinem Wohnzimmer auf der Forch bei Zürich. Der Vortrag, den Professor Jörg Paul Müller an diesem Abend hielt – ein Jahr minus einen Tag bevor die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifizierte –, elektrisierte den damaligen «Spiegel»-Korrespondenten: «Mir wurde bewusst: Strassburg ist der archimedische Punkt und die EMRK der archimedische Hebel, um in diesem Land zu bewegen, was seit langem bewegt werden sollte.»

44 Jahre nach diesem «Erweckungserlebnis» ist Minelli vor allem als Gründer und Leiter von Dignitas bekannt, der Organisation von Menschen, die im Falle zu grossen Leidens selbstbestimmt aus dem Leben scheiden wollen. Dass Minelli die Schweizer Rechtsprechung seither mit Gängen ans Bundesgericht und bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg in vielen weiteren Bereichen nachhaltig beeinflusst hat, ist weniger geläufig. Andreas Gross, ehemaliger SP-Nationalrat und Parlamentarier im Europarat, schreibt im Nachwort zum Buch «Scharf beobachtet. Ein Dritteljahrhundert EMRK-Praxis und die Schweiz», das Minelli 2014 herausgegeben hat: «Wer eine Personifizierung einer die EMRK achtenden Schweiz sucht, der findet sie auf der Zürcher Forch in Ludwig A. Minelli.»

Fantasievolles Vorgehen

Er sei ein physisch schwacher Bub gewesen, erinnert sich der 84-Jährige. Jemand in dieser Situation entwickle womöglich ein Sensorium für Gerechtigkeit. Ein erstes Mal habe sich das 1944 in der sechsten Primarklasse in einem Dorf im Zürcher Oberland bemerkbar gemacht. «Es war noch Krieg, und unser Lehrer musste in den Militärdienst. Der Verweser, der ihn vertrat, schlug eines Tages einem Viertklässler mit einem Lineal über den Handrücken. Da beschwerte ich mich in der nächsten Pause bei einem benachbarten Landwirt, von dem ich wusste, dass er in der Schulpflege sass.»

Jurist wurde Minelli erst Jahrzehnte später. Nach der Handelsmatur arbeitete er zunächst im Malergeschäft seines Vaters, bei einer Buchhaltungsfirma und bei der Schweizerischen Tresorgesellschaft; nebenher schnupperte er an der Uni Zürich – und begann 1956 bei der «Tat» seine journalistische Laufbahn.

Schon damals habe sich bei ihm dieser Imperativ gemeldet, sagt er: «Du musst an die Quelle!»

Zum Beispiel im Gefolge der Mirage-Affäre: Im Frühling 1964 beantragte der Bundesrat einen Nachtragskredit von über 500 Millionen Franken für den Kauf von hundert Kampfflugzeugen des Typs Mirage. Worauf sich das Parlament weigerte, auf das Geschäft einzutreten. Der Bericht der Arbeitsgemeinschaft Mirage beschuldigte daraufhin das Militärdepartement, die Regierung, das Parlament und die Öffentlichkeit getäuscht zu haben. Im September 1964 beschlossen die Räte eine Reduktion auf 57 Flugzeuge.

«Als der PUK-Vorsitzende Kurt Furgler vom Bundesrat die Vorlage eines Gesetzesentwurfs über das Verwaltungsverfahren verlangte, wurde mir klar, dass Professor Max Imboden dazu bereits fünfzehn Jahre zuvor einen Vorentwurf verfasst hatte», erinnert sich Minelli. Und als Bundespräsident Ludwig von Moos erklärte, der Bundesrat werde die Jahresfrist nicht einhalten können, habe es ihn auf der Tribüne des Nationalrats fast «vom Sessel gehauen».

Minelli, der die Debatte als «Spiegel»-Korrespondent verfolgte, wandte sich sogleich an den Zürcher LdU-Nationalrat Walter König, besorgte diesem Imbodens Vorentwurf, schrieb dazu einen Vorspann. König reichte dies als parlamentarische Initiative ein – und der Bundesrat hielt die Frist auf den Tag ein. Es war die Initialzündung dafür, dass man die parlamentarische Initiative überhaupt erst als Recht wahrnimmt. In der Folge wurden weitere parlamentarische Initiativen eingereicht – zum Missfallen der Regierungsparteien, die sie darum auf die Bedeutung einer Motion einzugrenzen versuchten.

Da meldete er sich wieder, dieser Imperativ: «Im Bundesarchiv habe ich sogleich Verfassungsentwürfe und Debatten der Tagsatzung von 1832, 1833, 1847 und 1848 kopieren lassen. Und konnte belegen: Die parlamentarische Initiative ist der des Bundesrats und der Standesinitiative der Kantone gleichgestellt. 117 Jahre wurde dieses Mittel nie wissentlich eingesetzt!»

Die Art und Weise, wie Minelli der parlamentarischen Initiative zum Durchbruch verhalf, ist ein Beispiel für sein dynamisches Rechtsverständnis. Und dafür, wie fantasievoll er jeweils vorgeht. Als Vorbild dient ihm bis heute Fritz Zwicky: «Dieser Astrophysiker, der vielleicht berühmteste unbekannte Schweizer», so Minelli, «hat ein Denksystem entwickelt. Seine Morphologie sagt: Wenn man ein Problem lösen muss, sollte man zuallererst alle denkbaren Lösungen denken, in ein System bringen, sie untersuchen – und die schlechtesten eliminieren. Kurz: Wenn Sie es sich zur Grundlage machen, dass Sie keine Grenzen des Denkens von vornherein akzeptieren, können Sie zu überraschenden Lösungen kommen.»

Ein Soldat geht nach Strassburg

Am 11. Dezember 1976 wurde von der Europäischen Menschenrechtskommission erstmals eine Beschwerde aus der Schweiz für zulässig erklärt. Und wieder war Minelli entscheidend beteiligt: «Als ich hörte, dass in Basel ein Soldat wegen seines Haarschnitts im Militärarrest sitzt, nahm ich mit ihm Kontakt auf und sagte ihm: ‹Damit muss man unbedingt bis nach Strassburg gehen.›» Zuvor hatte sich der Soldat Herbert Eggs erfolglos an den Oberauditor der Armee gewandt, worauf er am 29. Dezember 1975 Beschwerde in Strassburg einreichte.

Die Menschenrechtskommission bestätigte am 4. März 1978 eine Verletzung des Artikels 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit), weil der Soldat keine Möglichkeit hatte, gegen diesen Freiheitsentzug einen Richter anzurufen. Bis dahin konnte sich ein Soldat nur intern gegen eine Arreststrafe beschweren – beim nächsthöheren Kommandanten und hinterher noch beim Oberauditor, dem obersten Strafverfolger der Armee.

Kurz zuvor hatte der Gerichtshof in fünf ähnlichen Fällen die Niederlande verurteilt. «Doch dann», so Minelli, «sagte die Kommission: Ja, wir betrachten das als Verletzung, aber der Gerichtshof hat diese Frage im Fall der Niederlande bereits beantwortet. Also soll das Ministerkomitee den definitiven Entscheid fällen. Dort kam aber weder für ein Ja noch für ein Nein eine Zweidrittelmehrheit zustande. Vermutlich wollte man die Schweiz nicht gleich zur Premiere verurteilen.»

Bis September 1979 waren sechs analoge Beschwerden aus der Schweiz in Strassburg eingegangen, die zu einem einzigen Verfahren vereinigt wurden: Am 13. Oktober 1981 beantragte die Menschenrechtskommission in ihrem Bericht «Santschi und andere», eine Verletzung der EMRK festzustellen. Am 24. März 1983 nahm das Ministerkomitee des Europarats eine entsprechende Resolution an – und verurteilte die Schweiz. Der Druck, den der Fall «Eggs» und die analogen Beschwerden ausübten, hatte jedoch bereits zuvor zu einer Änderung der Disziplinarstrafgesetzgebung für das Militär geführt: Am 1. Januar 1980 trat die neue Disziplinarstrafordnung in Kraft. Seither kann jeder Soldat, dem scharfer Arrest droht, den Ausschuss des Militärappellationsgerichts anrufen, sodass eine richterliche Überprüfung erfolgen kann.

«Die unbeschreibliche Leichtigkeit, mit welcher Kommandanten früher einen Wehrmann für fünf oder mehr Tage in Militärarrest schicken konnten – etwa lediglich seines Haarschnitts wegen! –, ist nur dank der EMRK seit 35 Jahren verschwunden», notierte Minelli 2014 in der Quartalsschrift «Mensch und Recht», die die 1978 von ihm gegründete Schweizerische Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention herausgibt. Verschwunden sind damit auch die unsägliche Haarschnittvorschrift und der oft mit solchen Arreststrafen verbundene Verlust der Anerkennung bereits geleisteter Diensttage. Zudem: Militärarresttage können seither in Halbgefangenschaft im Zivilleben abgesessen werden.

Die Stärkung der Rechtslage für Gefangene jeglicher Art ist eines von Minellis Hauptverdiensten. Bis heute werden unter dem Kürzel «Minelli I, Minelli II und Minelli III» drei Bundesgerichtsentscheide aus den Jahren 1973, 1979 und 1992 zitiert, die die Haftbedingungen für Gefangene deutlich verbessert haben.

Liest man sich durch Minellis bisheriges publizistisches Lebenswerk, so erscheint er einem als eine Art Seismograf: als ein Mann mit einem rechtlichen Spürsinn, der seiner Zeit in manchen Fällen um Jahre voraus ist.

Am 25. März 1983, einen Tag nach der Verurteilung der Schweiz in Sachen Militärarrest durch das Ministerkomitee, kommt es auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu einer ersten Verurteilung der Schweiz. Wieder ist Ludwig A. Minelli involviert. Inzwischen ist er Jurist – 1977 hatte er mit 44 Jahren noch mit dem Jusstudium begonnen, 1981 mit dem Lizenziat abgeschlossen und 1986, mit 54 Jahren, das Rechtsanwaltspatent erworben.

Der Fall, mit dem er diesmal als persönlich betroffener Beschwerdeführer nach Strassburg ging und der unter der Bezeichnung «Affaire Minelli contre Suisse» in die Schweizer Rechtsgeschichte eingehen sollte, reicht ins Jahr 1972 zurück. Am 27. Januar 1972 warf Minelli dem Ingenieur Franz Vass in der Basler «National-Zeitung» gewerbsmässigen Betrug vor. Vass’ Firma Télé-Répertoire S.A. hatte Anzeigenaufträge für den Eintrag in einem Branchentelefonbuch akquiriert – mit dem Versprechen, dass dieses breit gestreut werde. Doch auf die Frage, wie hoch die Auflage des Telefonbuchs sei, liess Vass antworten, das sei Geschäftsgeheimnis. Minelli vermutete deshalb, Vass drucke gerade mal genug Exemplare, um den AnzeigenkundInnen einen Beleg zustellen zu können.

Verletzung der Unschuldsvermutung

Das Zürcher Geschworenengericht durfte auf Vass’ Ehrverletzungsanklage am 12. Mai 1976 wegen Eintritt der absoluten Verjährung nicht mehr eintreten – verpflichtete Minelli aber, zwei Drittel der Verfahrenskosten sowie Vass eine reduzierte Prozessentschädigung zu bezahlen; insgesamt 1574 Franken. «Zuvor hatte Vass beantragt, das Verfahren gegen mich zu sistieren, da er mit einer Klage gegen einen ‹Blick›-Journalisten bessere Aussichten hatte», erklärt Minelli. «Nachdem dieser verurteilt worden war, wurde die Sistierung wieder aufgehoben.» Vierzehn Tage vor Eintritt der absoluten Verjährung, die damals schon nach vier Jahren eintrat, wollte der Präsident des Zürcher Geschworenengerichts den Fall im Geschworenengericht noch hastig behandeln. «Da sagte ich mir, so nah am rettenden Ufer gehen wir nicht auf ein schwankendes Schiff, und habe eine staatsrechtliche Beschwerde gegen die Zulassung der Anklage gemacht.»

Der Gerichtshof des Geschworenengerichts und zwei Bezirksrichter beschlossen dann aber, dass Minelli, hätte man den Prozess rechtzeitig durchführen können, «sehr wahrscheinlich» verurteilt worden wäre, weswegen ihm besagte Kosten auferlegt werden sollten. Minelli empfand das als Verletzung der Unschuldsvermutung. Doch wie zuvor das Kassationsgericht des Kantons Zürich wies auch das Bundesgericht seine Beschwerde ab: Die in den meisten kantonalen Strafprozessordnungen vorgesehene Regelung, einem Freigesprochenen Kosten auferlegen zu können, wenn dieser das Strafverfahren durch ein «verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen verursacht» habe, verstosse nicht gegen die Unschuldsvermutung, argumentierte das Bundesgericht. Die Kostenauflage bedeute nicht eine «Verdachtsstrafe», sondern sei eine Haftung für ein fehlerhaftes Verhalten. Überdies sei der Gedanke, es solle nicht der Steuerzahler für Kosten aufkommen müssen, die ein Angeschuldigter durch vorwerfbares Verhalten verursacht habe, tief in der Schweiz verwurzelt.

Gegen dieses Urteil wandte sich Minelli am 20. Juni 1979 an die Europäische Menschenrechtskommission. Diese teilte Minellis Auffassung. Im März 1983 hiess dann auch der von ihr angerufene Gerichtshof die Beschwerde einstimmig gut: Minelli sei zwar nicht schuldig gesprochen worden – doch betrachteten ihn die Schweizer Richter als schuldig, wenn sie trotz Verfahrenseinstellung sagten, er wäre «sehr wahrscheinlich» verurteilt worden. Das Bundesgericht habe dem Urteil des Zürcher Gerichts nur «Nuancen» hinzugefügt, dem Entscheid aber in den grundlegenden Punkten zugestimmt, was einem Schuldspruch gleichkomme.

Das Urteil hat die Schweizer Rechtsprechung nachhaltig verändert: Das zuvor über ein Jahrhundert gepflegte System, Nichtschuldigen Verfahrenskosten aufzuerlegen, lässt sich seither nur praktizieren, wenn die angeklagte Person eine Rechtsnorm verletzt hat (vgl. «Das Ende der Verdachtsstrafe» im Anschluss an diesen Text). Das sei zwar ein wichtiger Fortschritt, sagt Minelli: «Stossend bleibt jedoch, dass einem Nichtverurteilten bei einer Verletzung einer Rechtsnorm weiterhin Kosten auferlegt werden können. Will man in diesem Punkt weitere Fortschritte erzielen, müsste man zunächst rechtsvergleichend schauen, wie es dabei in den Nachbarstaaten aussieht.» Auch hier müsse es darum gehen, das geltende Recht auf der Europaratsebene zu vereinheitlichen: «Eine stärkere Übereinstimmung der Rechtsnormen führt zu mehr Frieden. Und eben dies, die Friedenssicherung, war ja auch das erste Ziel des Europarats und der EMRK.»

Neue Technologien, neue Fragen

Nun aber wird ebendiese friedensfördernde Konvention von der SVP mit ihrer Volksinitiative «Landesrecht vor Völkerrecht» radikal infrage gestellt. «Hätten unsere Parlamentarier etwas Füdli, würden sie die Initiative für ungültig erklären», sagt Minelli. «Allein deshalb, weil sie mit ihren zentralen Auswirkungen auf die Garantie der Menschenrechte ja eigentlich in eine Totalrevision münden würde.»

Es ist ja fürwahr nicht so, dass es in Sachen Menschenrechte hierzulande nichts mehr zu tun gäbe. Wo aber liegen heute die grössten Defizite? «Unter anderem sicher in der fürsorgerischen Unterbringung», antwortet Minelli. «Ein Beispiel: Wenn ein Obdachloser unter freiem Himmel schläft, dürfte unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten der verwahrloste Eindruck, den er hinterlässt, kein Grund zur fürsorgerischen Unterbringung sein. Vielmehr müsste man zuerst klären: Ist er in Bezug auf die Frage, wie er leben will, urteilsfähig? Und weiss er, was eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt bedeutet? Nun aber ist die Lehre – entgegen dem gesamten übrigen Recht – fast einhellig der Meinung, dass es dabei nicht auf die Urteilsfähigkeit ankomme. Ich gehe davon aus, dass man diese Frage beim Wechsel vom alten System mit der administrativen Versorgung ins neue System schlicht übersehen hat.»

Einen eklatanten Schwachpunkt sieht Minelli zudem in der seit dem Inkrafttreten der eidgenössischen Zivilprozessordnung abhandengekommenen «wohlfeilen Rechtspflege»: «Dazu müsste es gelegentlich Beschwerden nach Strassburg geben. Wenn Ihnen eine gerichtliche Wahrnehmung Ihrer Interessen aufgrund von verfahrensrechtlichen Vorschriften wie etwa einer Kautionsleistung nicht mehr möglich ist, verletzt das Artikel 6.1. der EMRK. Heute können sich wegen solcher Vorschriften oft nur ganz Reiche und – dank der unentgeltlichen Rechtspflege – ganz Arme eine gerichtliche Überprüfung leisten.»

Auch müsste die EMRK dahingehend erweitert werden, «dass jeder Mensch, solange ihm die Freiheit entzogen ist, einen unentgeltlichen Rechtsvertreter hat». Und nicht zuletzt sieht Minelli in der staatlichen Überwachung – insbesondere der Vorratsdatenspeicherung – eine massive Verletzung der Menschenrechte: «Alles, was in der Schweiz in diesem Bereich bereits realisiert oder in Planung ist, überschreitet den erlaubten Bereich bei weitem.»

Minellis Fazit: «Es gibt noch viel zu tun – umso mehr, als durch die technologischen Entwicklungen stetig neue ungeklärte Bereiche hinzukommen. Denken Sie nur an die neuen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin! Da stellt sich dereinst vielleicht die Frage: Gibt es das Recht auf ein Kind?»

Ludwig A. Minelli giesst erneut vom inspirierenden chinesischen Tee in die Tassen. Tee trinken ist eine von vielen seiner Leidenschaften. Nur: Abwarten, das ist seine Sache nicht. Von Zurücklehnen keine Spur. Er betätigt ihn weiter, diesen «archimedischen Hebel».

«Frau Huber geht nach Strassburg»

Mit dem Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention im Jahr 1974 und in den Folgejahren ist der Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten hierzulande erheblich ausgeweitet worden. Doch selbst was zuweilen als selbstverständlich gilt, muss im Einzelfall immer wieder erkämpft werden.

In einer Serie stellen wir ganz unterschiedliche Menschen vor, die dafür bis nach Strassburg gehen mussten – und damit die Schweizer Rechtspraxis entscheidend beeinflusst haben.

25. März 1983 : Das Ende der Verdachtsstrafe

Die erste Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), die Ludwig A. Minelli am 25. März 1983 mit seinem damaligen Rechtsanwalt Manfred Kuhn erstritt, stützt sich auf Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention: das Recht auf ein faires Verfahren.

Absatz 1 enthält unter anderem den Anspruch auf eine öffentliche Gerichtsverhandlung, vor einem unabhängigen und unparteiischen, auf einem Gesetz beruhenden Gericht. Zudem verlangt er, dass Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Fristen abgeschlossen werden.

Absatz 2 enthält das Recht auf die Unschuldsvermutung. Das heisst, dass jede angeklagte Person so lange als unschuldig zu gelten hat, bis ihre Schuld auf einem gesetzlichen Weg bewiesen ist. In Absatz 3 sind Einzelrechte der angeklagten Personen verbürgt, unter anderem das Recht auf Information über die Beschuldigung, auf Verteidigung, das Konfrontationsrecht und jenes auf einen Dolmetscher.

Das Urteil des EGMR im Fall «Minelli contre Suisse» hat dazu geführt, dass der «Freispruch zweiter Klasse» stark eingeschränkt wurde. Das Bundesgericht hielt 1983 in einem Leitentscheid fest, es werde die kantonale Praxis von nun an kritischer prüfen und der Praxis des EGMR Rechnung tragen.

Gemäss der neuen eidgenössischen Strafprozessordnung (2011) können demnach im Fall einer Verfahrenseinstellung oder eines Freispruchs nur noch Verfahrenskosten auferlegt werden, wenn die beschuldigte Person «rechtswidrig und schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt oder dessen Durchführung erschwert hat» – nicht aber, wenn man dadurch den Eindruck erwecken möchte, dass sie vielleicht doch schuldig sei.

Adrian Riklin