Grundrechte: «Der aktuelle Schutz ist nicht gerecht»

Nr. 35 –

Vom Trottoirrand zum Migrationsrecht: Der Jurist Tarek Naguib fordert ein Rahmengesetz gegen verschiedene Formen von Diskriminierung.

Tarek Naguib
«Antidiskriminierungsgesetze entstehen nie aufgrund von Einsichten der Entscheidungsträger»: Tarek Naguib.

WOZ: Herr Naguib, was treibt Sie um?

Tarek Naguib: Die Frage, wie wir es schaffen, dass das Recht auf Nichtdiskriminierung vom geschriebenen zum gelebten Recht wird. Es ist ein Grund- und Menschenrecht, das ungenügend umgesetzt wird. Etwa im Alltag einer Person im Rollstuhl, die auf einen Trottoirrand trifft, oder wenn ein Schwarzer Mann eine rassistische Polizeikontrolle erlebt. Es fehlt ein Rahmengesetz, das alle Diskriminierungsformen in sämtlichen Lebensbereichen für die verschiedenen betroffenen Gruppen gleich ernst nimmt.

Das ist ein sehr breites Spektrum an möglichen Diskriminierungen.

Auf den ersten Blick haben die genannten Fälle zwar nicht viel miteinander zu tun und betreffen unterschiedliche Kämpfe um Anerkennung. Die Frauenbewegung hat sich über Jahrzehnte für das Gleichstellungsgesetz eingesetzt, Menschen mit Behinderungen für das Behindertengleichstellungsgesetz und nun die Inklusionsinitiative. Andere wiederum befinden sich noch in den Anfängen, wie die LGBTIQ+- und die antirassistischen Bewegungen, oder sie sind mehr oder weniger unsichtbar wie etwa Organisationen, die sich gegen Alters- und Armutsdiskriminierung einsetzen. Ein Rahmengesetz könnte dabei behilflich sein, das gemeinsame Anliegen dieser heterogenen emanzipatorischen Stimmen zu stärken, nämlich: das Recht, nicht laufend und wiederholt Diskriminierung zu erfahren.

Der erste zivilgesellschaftliche Anstoss für ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz wurde 2014 gegeben. Warum versandete die Debatte?

Damals haben sich eine Reihe von Organisationen auf Anstoss der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz an mehreren Sitzungen und einer Tagung getroffen. Die Unterstützung für das Anliegen an sich war bei allen gross, weil verstanden wurde, dass der gesetzliche Schutz vor bestimmten Formen der Diskriminierung wie zum Beispiel Rassismus und Altersdiskriminierung noch zu schwach ist. Allerdings gab es teils auch Skepsis: weil durch die politische Diskussion über ein solches Rahmengesetz die «eigenen» Anliegen an Sichtbarkeit verlieren – und bestehende Fortschritte unterminiert werden könnten. Der strategische Fokus vieler Organisationen war vor allem darauf ausgerichtet, die jeweiligen bestehenden Spezialgesetze wie etwa das Behindertengleichstellungsgesetz zu stärken. Sie alle sind das Resultat von jahrzehntelangen Auseinandersetzungen. Antidiskriminierungsgesetze entstehen nie aufgrund von Einsichten der Entscheidungsträger.

Die Schweiz hat die wichtigsten menschenrechtlichen Übereinkommen ratifiziert. Zudem gibt es eine Reihe von Spezialgesetzen, neben den von Ihnen bereits erwähnten etwa auch die Strafnorm gegen Diskriminierung aufgrund der «Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung». Ferner schützt das geltende Privatrecht vor Persönlichkeitsverletzungen und kann laut Rechtsexpert:innen ebenfalls zum Schutz vor Diskriminierung genutzt werden. Warum eine weitere Verbriefung?

Weil der aktuelle Diskriminierungsschutz ungenügend und nicht gerecht ist. Er ist voller Leerstellen. Es gibt Bereiche, in denen wichtige gesetzliche Fortschritte erfolgt sind, auf denen wir aufbauen können. Dazu gehören zum Beispiel die von Ihnen genannten Gesetze zur Gleichstellung von Frau und Mann und von Menschen mit Behinderungen. Dann gibt es aber auch Bereiche, in denen das Recht schlicht untauglich ist. Wer sich etwa gegen Rassismus oder Diskriminierung von LGBTIQ+ durch Behörden, Arbeitgebende oder Vermieter:innen wehren möchte, riskiert vor allem Kosten und setzt sich grossen Belastungen aus. Die erwähnte Strafnorm bietet da einzig bei offensichtlichen und offenen Formen eine gewisse Handhabe.

 

Ihr Rahmengesetz mag auf dem Papier schön aussehen, aber letztlich kommt es auf die Ausführung an.

Das ist so. Darum ist es wichtig, dass in einem solchen Rahmengesetz auch die Um- und Durchsetzung gut geregelt wird. Es braucht eine Bestimmung zur Erleichterung in der Beweisführung und ein generelles Recht von Organisationen, in eigenem Namen Beschwerde zu führen, wenn eine grössere Anzahl von Menschen betroffen sind. Dies hat etwa im Kampf gegen Lohndiskriminierung von Frauen oder in der Bekämpfung von Hindernissen für Menschen mit Behinderungen bei Bauvorhaben zu Fortschritten geführt. Zudem ist es notwendig, dass ein solches Gesetz den Staat in die Pflicht nimmt, in sämtlichen Bereichen Massnahmen zur Förderung einer Kultur der Nichtdiskriminierung, Wertschätzung und Vielfalt zu ergreifen – als durchgängiges Leitprinzip. Letztlich geht es darum, der Struktur, die hinter jeder einzelnen Diskriminierung steht, etwas entgegenzusetzen.

Der Umtriebige

Tarek Naguib (47) ist Jurist mit Schwerpunkt Antidiskriminierungsrecht und Koordinator der Plattform Menschenrechte Schweiz. Er hat mehrere Organisationen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Aktivismus mitgegründet, etwa das Institut Neue Schweiz (Ines) und die Allianz gegen Racial Profiling.

Massgeblich beteiligt ist Naguib derzeit auch an der Aktion Vierviertel, die kürzlich eine Einbürgerungsinitiative lanciert hat, die der herschenden willkürlichen Praxis ein Ende setzen will.

Was ist aus juristischer Sicht strukturelle Diskriminierung?

Dabei handelt es sich um gesellschaftliche Vorstellungen, die über Jahrhunderte gewachsen sind und dazu führen, dass bestimmte Gruppen von Menschen mehr oder weniger benachteiligt und privilegiert werden. Wir bewegen uns in Verhältnissen, von denen statistisch betrachtet vor allem eine Gruppe profitiert: der weisse cis Mann ohne Behinderung im mittleren Lebensalter, der eine sesshafte Lebensweise führt und über eine genügende existenzielle Absicherung verfügt. Alle davon abweichenden Gruppen erfahren in ihrem Alltag mehr oder weniger laufend und in unterschiedlichen Formen und Nuancierungen Diskriminierung. Das ist jetzt etwas zugespitzt formuliert, zeigt aber, dass die Forderung nach einem Rahmengesetz sehr grundsätzlich ist.

Inwiefern?

Indem ein solches Gesetz das grosse Ganze in den Blick nimmt. Es geht darum aufzuzeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung davon profitieren würde. Nehmen wir das Beispiel der Selektion im Bildungswesen: Wir wissen, dass beim Übertritt in die Oberstufe das Geschlecht, die Herkunft, die Religion, die sozioökonomische Situation und mögliche Beeinträchtigungen mitentscheidend für die weitere Schullaufbahn sind. Diese Faktoren interagieren auf komplexe Weise miteinander und führen dazu, dass ein:e Schüler:in bestimmten Diskriminierungsrisiken ausgesetzt ist.

Wie könnte man mit einem Antidiskriminierungsgesetz gegen solche Ungerechtigkeiten vorgehen?

Es klingt banal: Wenn die Forderung nach einem solchen Gesetz erst mal formuliert wird, gewinnt das Anliegen an Kraft. Die Chance steigt, dass es ernsthaft debattiert und irgendwann auch einmal verankert wird. So wird anerkannt, dass Unrecht geschieht, und das Prinzip der Nichtdiskriminierung wird gestärkt. Das ist eine wichtige Botschaft für jene, die dieses Unrecht erfahren müssen. Und ein ebenso wichtiges Signal an die Gesellschaft insgesamt, die Demokratie zu demokratisieren.

Oftmals ist es aber schwierig, eine Diskriminierung nachzuweisen.

Darum braucht es, wie eben angedeutet, eine Reduktion des Beweismasses mit anschliessender Beweislastumkehr. An einem Beispiel: Gelingt es einer Person, die von einer mutmasslich rassistischen Polizeikontrolle betroffen ist, genügend Indizien vorzulegen, dass auch die Hautfarbe eine Rolle gespielt hat, soll die Polizei beweisen müssen, dass dem nicht so war.

Sie kritisieren auch, dass die hiesige Migrationspolitik zusätzlich Diskriminierung produziert. Können Sie das an einem konkreten Beispiel aufzeigen?

Im Kanton Bern gibt es eine Regelung, die besagt, dass der Bezug von Sozialhilfe ein Grund ist, jemandem den Schweizer Pass verwehren zu können. Wobei es einen Passus gibt, der Ausnahmen vorsieht. Eine alleinerziehende Mutter mit einem chronisch kranken Sohn hat ein Gesuch für den Schweizer Pass gestellt. Die Einbürgerung wurde ihr verweigert, weil sie Schulden bei der Sozialhilfe hat. Im konkreten Fall wiesen alle Rechtsinstanzen bis zum Bundesgericht die von der Frau erhobene Beschwerde wegen Diskriminierung aufgrund der sozialen Stellung, der Behinderung ihres Sohnes und ihres Geschlechts ab – entgegen der eigentlich geltenden Rechtslage. Die Frau lebt deshalb weiterhin prekär. Ihr Aufenthaltsrecht kann jederzeit widerrufen oder zurückgestuft werden. Hinzu kommt, dass statistisch betrachtet ein Schweizer Pass das Diskriminierungsrisiko im Alltag verringert, etwa bei der Stellen- und Wohnungssuche.

Hätte da ein Antidiskriminierungsgesetz hilfreich sein können?

Ja, denn der Frau wäre es gestützt auf ein sorgfältig formuliertes Gesetz leichter gefallen, die Behörden und das Bundesgericht zu überzeugen und ihr Recht auf Nichtdiskriminierung durchzusetzen. Es könnte dazu beitragen, die Institutionen zu sensibilisieren, damit sie in der Lage sind, die teilweise komplexen Fragen rechtlich auch sorgfältig zu prüfen und umzusetzen. Dies gilt übrigens auch für die Zivilgesellschaft. Wir alle können viel voneinander lernen, wenn wir uns gemeinsam für ein umfassendes Rahmengesetz einsetzen.