Kost und Logis: Kalte Herzen

Nr. 40 –

Karin Hoffsten über parlamentarische Gefühlsarmut

Das Wort «Empathie» definiert der Duden als die «Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen». Synonyme dafür sind Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Teilnahme oder Verständnis. Das wissen Sie natürlich, und ich erkläre es hier nur noch mal, um den Boden für eine Erkenntnis zu schaffen, die mich kürzlich wieder kalt erwischt hat: Grosse Teile unseres Parlaments sind weitgehend empathiefrei. Oder wie soll ich mir sonst erklären, dass der Nationalrat vorige Woche einer SVP-Motion zustimmte, die vorläufig aufgenommenen Geflüchteten das Recht nehmen will, Familienangehörige in die Schweiz zu holen?

105 Nationalrät:innen – neben der SVP- und der FDP- auch fast die ganze Mitte-Fraktion – können sich offenbar nicht vorstellen, wie sich die Trennung von den eigenen Kindern, Eltern, Brüdern, Schwestern – oder wen auch immer man zur engsten Familie zählt – für einen Menschen anfühlt. Vielleicht ist ihnen im Eifer der politischen Gefechte ja die Einsicht abhandengekommen, dass es sich überhaupt um Menschen handelt.

Wie hoch die Hürden sowieso schon sind, die geflüchtete Menschen in der Schweiz überwinden müssen, hat mir gerade ein Theaterstück vor Augen geführt: «Fünf Uhr morgens» im kleinen Zürcher Sogar-Theater. Vorerst war es die letzte Vorstellung, aber die Künstlerinnen werden ihr Werk sicher gern überall auf‌führen, wo es möglich ist. Ich empfähle es ja neben allen Schweizer Kleintheatern auch dem Nationalrat; dort gibts schliesslich immer wieder mal Blasmusik und Ähnliches, man denke nur an den 70. Geburtstag eines SVP-Bundesrats vor fast vier Jahren.

In «Fünf Uhr morgens» wird arabisch, ukrainisch und deutsch gesprochen – und doch versteht man alles. Mit einer ungeheuren Präsenz vermitteln eine syrische und eine ukrainische Schauspielerin, wie es sich hier für «Fremde» anfühlt und wie es ist, wenn die Schweiz doch langsam zur Heimat wird, auch wenn man das lieber nicht laut sagt: «Wenn eine Araberin sagt, ‹die Schweiz ist meine Heimat›, dann bekommen die meisten Schweizer:innen Schluckauf.»

Um fünf Uhr morgens sind viele dieser «Fremden» noch wach; «alleine, mit vielen Gedanken im Kopf» warten sie als «Drittstaatsangehörige» auf Behördenentscheide. Wer von uns weiss denn schon, welche Verbote, Gebote und Befugnisse mit den Ausweisen B, C, F, G, N oder S verknüpft sind? Da ist Krieg auch nicht gleich Krieg: Wer dem Ukrainekrieg entkam, hat mehr Privilegien als eine Überlebende des Kriegs in Syrien. Das kann auch Neid auslösen.

Wie denn wir in der Fremde gern begrüsst würden, fragen die beiden Frauen am Ende ins Publikum, und wir lernen, auf Arabisch zu sagen: «Du bist in Sicherheit. Alles ist in Ordnung.» Die Ukrainerin wünscht sich stattdessen: «Egal, was passiert, ich bin bei dir!», am liebsten auf Ukrainisch. Dann ergänzt sie akzentfrei: «Nei – uf Schwyzerdütsch!»

Karin Hoffsten verdankt ihr Bleiberecht der Tatsache, dass sie noch nach altem Eherecht einen Schweizer geheiratet hat. Es dürfte sich um eines der wenigen Privilegien handeln, die das Patriarchat Frauen einst zugestand.