Militarismus in Polen : Mit Helikoptern gegen die Angst vor Russland

Nr. 41 –

Kein anderer Nato-Staat gibt verhältnismässig so viel Geld für Rüstung aus wie Polen. Die direkte Nachbarschaft zur Ukraine ist ein Grund dafür, noch wichtiger sind aber historische Traumata, die bis heute wirken.

Während die Schweiz darüber debattiert, wie die Erhöhung der Armeeausgaben zu finanzieren sei, rüstet Polen in einem Ausmass und Tempo auf, das verblüfft – und Fragen aufwirft. Erst letzten Monat hat die seit Dezember regierende, proeuropäische Regierung von Premierminister Donald Tusk entschieden, die Militärausgaben von bereits hohen 4,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) auf 4,7 Prozent im nächsten Jahr zu erhöhen. Das wären umgerechnet 41 Milliarden Franken. Diese Ausgaben sollen zu einem Drittel über einen Sonderfonds beziehungsweise Schulden ausserhalb des Staatshaushalts finanziert werden.

Polen ist bereits seit 2023 – als noch die rechtskonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Regierung stellte – innerhalb der Nato das Land mit den verhältnismässig höchsten Rüstungs- und Verteidigungsausgaben. Es überflügelt selbst die USA, die letztes Jahr 3,4 Prozent aufwendeten. Damit übertrifft das mitteleuropäische Land bei weitem das von der Nato ausgewiesene Ziel von 2 Prozent.

Ausländische Rüstungsgüter

Den grössten Ausgabenposten wendet Polen für neue Waffensysteme auf, die es mehrheitlich im Ausland einkauft, vor allem in den USA und in Südkorea. Polens eigene Rüstungsindustrie erhält nur wenige, vor allem kleinere Aufträge. Zwar kündigte das Verteidigungsministerium an, dass künftig rund die Hälfte der Bestellungen durch die heimische Rüstungsindustrie beziehungsweise in Polen produzierende ausländische Konzerne erfolgen soll. Doch angesichts der relativen technologischen Schwäche polnischer Unternehmen, wie des staatlichen PGZ-Konzerns, scheint dies eher Wunschdenken.

In Bezug auf die Abhängigkeit von ausländischen Rüstungsgütern ist der Kauf von 96 Kampfhelikoptern des Modells AH-64 Apache aus den USA, den die aktuelle Regierung im August finalisierte, in vielerlei Hinsicht erhellend. Das Geschäft mit einem Gesamtwert von deutlich über neun Milliarden Franken umfasste zwar auch Offsetvereinbarungen, bei denen es darum geht, dass ein bestimmter Anteil der Investitionen nach Polen, in dortige Unternehmen, zurückfliesst. Doch mit einem Volumen von umgerechnet gut 210 Millionen Franken – also etwa 2,5 Prozent der Kaufsumme – fällt das Volumen äusserst mager aus. Auch die hohe Zahl der bestellten Maschinen ist fragwürdig. In der wichtigsten Tageszeitung Polens, der konservativ-liberalen «Rzeczpospolita», schrieb etwa der auf Militärfragen spezialisierte Journalist Maciej Miłosz: «Warum kaufen wir so viele AH-64-Apache-Helikopter? Das liegt ganz einfach an der Gigantomanie der Vorgängerregierung und am mangelnden politischen Mut der jetzigen Regierung.»

Grundsätzlich jedoch gibt es kaum Kritik an den enorm hohen Militärausgaben. Im Gegenteil: Sie treffen auf breite gesellschaftliche Akzeptanz. So sagte etwa Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz Anfang September bei einem Konferenzpanel mit dem Titel «Ruhig war es schon. Polen im Krieg»: «Heute sagen mir die Menschen auf den Strassen geradeheraus: Wir sind in der Lage, die Mühen zu stemmen; es ist gut, dass wir so viel Geld für Rüstung ausgeben.» Tatsächlich hat eine Umfrage der Nato im Juni gezeigt, dass mehr als die Hälfte der Menschen in Polen die Beibehaltung der Rüstungsausgaben auf dem aktuellen Stand befürworten, vierzig Prozent wollen gar noch höhere Ausgaben.

Die Gründe dafür, dass die Tusk-Regierung nicht den «Mut» zur gemässigteren Aufrüstung aufbringt und das Zweiprozentziel derart stark übererfüllt, ohne die drastischen finanziellen Auswirkungen für Polens Gesellschaft zu berücksichtigen, sind zu grossen Teilen in der Geschichte des Landes zu finden. In Polen sitzt die historische Wunde des Zweiten Weltkriegs tief, und sie betrifft vor allem, aber nicht nur die Verbrechen von Nazideutschland und der Sowjetunion.

Als das Deutsche Reich am 1. September 1939 in Polen einfiel, kamen Frankreich und Grossbritannien trotz vorheriger Sicherheitszusagen dem Land nicht zur Hilfe. Dieser «Verrat des Westens» ist einer der Gründe für die sicherheitspolitische Skepsis gegenüber Westeuropa und die zugleich starke USA-Orientierung. Ein weiterer Grund für nach wie vor virulente gesellschaftlich-politische Traumata ist Stalins Überfall auf Polen am 17. September 1939. Die Sowjets ermordeten Zehntausende Pol:innen und zwangen dem Land nach 1945 ein moskautreues Regime auf.

Das Umbruchjahr 1989 erlebte die überwältigende Mehrheit in Polen daher als grosse Befreiung vom imperialen Sowjetkommunismus. Heute sieht sie Wladimir Putins Russland als dessen Wiedergänger. «Einige Ängste und Traumata, Gewohnheiten und Verhaltensweisen sind längst in den kulturellen Blutkreislauf der Nation eingedrungen. Sie kursieren dort zum Teil noch heute», schreibt der Historiker Marcin Zaremba. Traumata beeinflussen die Bewertung von Situationen, die dem einst erlebten Schrecken ähnlich scheinen. So sehr, dass General Wiesław Kukuła einen Aufschrei, aber auch Verständnis in der Politik hervorrief, als er Anfang Oktober zu Studierenden einer Militärakademie sagte: «Alles weist darauf hin, dass wir die Generation sind, die mit der Waffe in der Hand das Vaterland verteidigen wird. Und weder ich noch irgendjemand unter euch will, dass wir diesen Krieg verlieren.»

Dabei ist, rational betrachtet, die Bedrohungslage für Polen heute anders als 1939. Das Land ist Teil der Nato, und das Bündnis ist – anders als Frankreich und Grossbritannien damals gegenüber Deutschland – deutlich stärker als Russland: Es hat insgesamt ein elfmal so hohes Verteidigungsbudget als der Kreml und doppelt so viel militärisches Personal. Ausserdem sind auf polnischem Boden fast 10 000 US-Soldat:innen stationiert.

Bis jetzt ein Alleingang

Die enormen Ausgaben, die hauptsächlich auf konventionelle Waffensysteme entfallen, könnten laut einem Bericht der polnischen Bank PKO «zur Belastung für den öffentlichen Haushalt und die Wirtschaft» werden. Zudem könnten sich die Investitionen als fehlgeleitet erweisen – denn schwere Panzer, Kampfflugzeuge, Helikopter und stark aufgestockte Truppen sind nur bedingt ein wirksames Instrument gegen hybride Kriegsführung und Destabilisierungsaktionen, auf die Russland setzt. Bereits jetzt häufen sich in Polen Vorfälle, die womöglich auf russische Sabotage zurückzuführen sind: Störungen des Schienenverkehrs, die Explosion in der Munitionsfabrik Mesko im Juni dieses Jahres oder ein Grossbrand im Hafen von Danzig Mitte Juli.

Die Reaktion Polens auf diese Ereignisse hat Aussenminister Radosław Sikorski kürzlich so zusammengefasst: Wenn Russland eskaliere, «können auch wir eskalieren». Jüngst betonte Sikorski, dass Polen bereit wäre, russische Raketen, die in Richtung Polen flögen – solche Vorfälle gab es bereits –, noch über der Ukraine abzuschiessen. Die Nato ist in dieser Frage bislang zurückhaltend. Auch der Vorschlag von Staatspräsident Andrzej Duda, die Rüstungs- und Verteidigungsausgaben der Nato-Staaten von derzeit zwei Prozent auf drei Prozent des BIP anzuheben, fand bisher keinen Widerhall.