Aufbruch in Polen: Die neuen alten Chefs
Nun ist die proeuropäische Regierung in Polen an der Macht. Sie könnte zum Vorbild im Kampf gegen die europaweit erstarkende Rechte werden. Wenn sie es richtig macht.
Es war eine Art Heimkehr: Als Polens früherer und nun zum zweiten Mal amtierender Premierminister Donald Tusk vergangene Woche beim EU-Gipfel in Brüssel auftrat, begrüssten ihn die Regierungschef:innen der EU-Staaten wie einen guten alten Bekannten. Für viele ist er das auch: Tusk war von 2014 bis 2019 EU-Ratspräsident.
Die Ehre für den Wahlsieg der von ihm geführten liberalen Bürgerkoalition (KO), des liberal-konservativen Dritten Weges (TD) und der Neuen Linken (NL) am 15. Oktober gebührt zu einem erheblichen Teil ihm. Die nach acht Jahren abgewählte konservativ-nationalistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hatte sich im Wahlkampf auf Tusk eingeschossen – was diesem letztlich nützte. Nun, da in den meisten EU-Mitgliedstaaten rechte und rechtspopulistische Kräfte an Zustimmung gewinnen, wirkt die neue Mitte-Koalition in Polen wie ein Hoffnungsschimmer.
Nationale Interessen
Auf dem Brüsseler Parkett kann Tusk viel Wohlwollen erwarten. Ein erstes Signal: Die EU-Kommission hat Polen einen Teil der bislang blockierten Mittel aus dem EU-Corona-Wiederaufbaufonds freigegeben. Insgesamt stehen mehr als fünfzig Milliarden Euro an Zuschüssen und günstigen Darlehen für das Land bereit. Es reichte dafür die blosse Ankündigung, Teile der von der EU monierten Justizreformen der PiS rückgängig zu machen. Zu Beginn der Woche verkündete das Justizministerium erste entsprechende Massnahmen.
Derweil hat die neue Parlamentsmehrheit bereits mehrere Untersuchungskommissionen zu vermeintlichen oder tatsächlichen PiS-Vergehen beschlossen. Sie betreffen etwa einen Abhörskandal von Ende 2021 und den damaligen Einsatz der israelischen Spionagesoftware Pegasus.
Der 66-jährige Tusk, der schon von 2007 bis 2014 Ministerpräsident war, hat angekündigt, alles anders als die Vorgängerregierung der PiS machen zu wollen. Mit der EU und insbesondere ihren westeuropäischen Mitgliedstaaten will er wieder konstruktiv kooperieren. Dabei sollen die polnischen Interessen nicht zu kurz kommen, etwa bei strittigen Fragen bezüglich der Ukraine. Für Diskussionsstoff sorgen zum Beispiel die Proteste polnischer Lkw-Fahrer an der polnisch-ukrainischen Grenze. Sie fordern die Aufhebung der Lockerung, die die EU ukrainischen Spediteuren beim Zugang zum Binnenmarkt gewährt. Dass Tusk die polnischen Interessen bei seiner Rede zum Regierungsantritt derart hervorhob, liegt nicht zuletzt am Vorwurf der PiS, er sei ein «deutscher Agent». Tusk erwiderte darauf in seiner Erklärung nur: «Mich wird niemand in der EU ausspielen. Polen wird die Position einer Führungsnation in der EU wiedergewinnen.»
Auch wenn das «wieder» wenig mit der Realität der Vergangenheit zu tun hat: Der als charismatisch und führungsstark geltende Tusk könnte die Position Polens in der internationalen Politik tatsächlich aufwerten. Vor wenigen Wochen hat er sich bei EU-Parlamentarier:innen stark dafür eingesetzt, gegen den Resolutionsentwurf zu stimmen, der eine stärkere Föderalisierung der EU vorsah. Beim EU-Gipfel stimmte Tusk der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine ebenso zu wie dem von Ungarn blockierten Hilfspaket für die Ukraine. Dem Nachbarland hatte er kurz zuvor vor dem Parlament in Warschau vehement weitere militärische Unterstützung im Krieg gegen Russland zugesprochen.
Aussenpolitische Kontinuität
Mehr Reibungsfläche dürfte es mit dem Nachbarn Deutschland geben, Polens mit Abstand grösstem Handelspartner. Tusk wird sich darum bemühen, den Vorwurf, ein «deutscher Agent» zu sein, zu widerlegen. Und Polen und Deutschland haben durchaus nicht nur gemeinsame Interessen. Der von der PiS forcierte Ausbau des Hafens von Swinemünde zum Tiefseehafen und damit zu einer neuen Konkurrenz für den Hamburger Hafen ist nur ein Beispiel dafür. Ein anderes ist der von der PiS vorangetriebene Bau eines zentralen Flughafens bei Warschau, des Centralny Port Komunikacyjny, der dereinst als Hub für den Flug- und vor allem auch den Schienenverkehr eine zentrale Rolle für Menschen- und Warenströme in Mittel- und Osteuropa spielen soll. Tusk stellt das Grossprojekt offen infrage. Sollte es gekippt werden, werden viele im Land Tusk vorwerfen, im Sinn Berlins zu handeln.
Jenseits dieser ökonomisch-strategischen Fragen wird es aussenpolitisch auch viel Kontinuität geben. Zum einen wird sich an der klaren Ausrichtung Polens hin zur Nato sowie in der Position zu Russlands Krieg gegen die Ukraine kaum etwas ändern. Der neue und alte Aussenminister (auch er war von 2007 bis 2014 schon einmal im Amt) heisst Radosław Sikorski. Der Sechzigjährige gilt als klar proamerikanisch, auch wenn er im September 2022 die Sprengung der Pipeline Nordstream in einem wohl spontanen Twitter-Eintrag den USA zuschrieb. Er kommentierte den Anschlag mit den Worten: «Thank you, America.»
Kontinuität wird es auch bei der Aufrüstung geben, Tusk betont die Bedrohung durch Russland. Im PiS-Haushaltsentwurf für das kommende Jahr waren 4 Prozent des BIP für Verteidigung und Rüstung veranschlagt worden. (Die Schweiz verfolgt bis 2035 ein 1-Prozent-Ziel.) Tusk stellt dies nicht grundsätzlich infrage. Er will zwar zuletzt abgeschlossene Rüstungsaufträge prüfen und gegebenenfalls «anpassen». Die Ausgaben werden aber sicherlich extrem hoch bleiben. Die neue Regierung wird das womöglich als Begründung dafür nutzen, sozialpolitische Wahlversprechen nicht einzuhalten, etwa jene einer stärkeren Förderung des Wohnungsbaus und der Erhöhung des Freibetrags auf der Einkommenssteuer.
Von der PiS lernen
Aus Sicht von Millionen von Menschen im Land bleibt es ein positives Erbe der PiS, sich für einen Staat eingesetzt zu haben, der wirtschafts- und sozialpolitisch stärker interveniert – im Kontrast zur Politik während Tusks erster Amtszeit. Weder er noch seine Koalitionspartner sagen das offen, aber in manchen Bereichen betrieb die PiS de facto linke Politik. Sie stopfte Steuerschlupflöcher, betrieb aktive Lohnpolitik und initiierte Massnahmen, um die Kluft zwischen Arm und Reich sowie zwischen Stadt und Land zu verkleinern. Auf dem Gini-Index, einem statistischen Mass zur Erfassung von Einkommensungleichheit, erzielte Polen 2022 einen Wert von 26,3. Dieser Wert ist niedriger und damit besser als der EU-Schnitt (29,6) – und als derjenige der Schweiz (31,4). Noch 2015 betrug der Wert in Polen 30,6, was damals dem EU-Mittel entsprach.
«Ein Grossteil der Gesellschaft lebt heute materiell besser als vor 2015», schreibt auch der Wirtschaftspublizist Piotr Wójcik im Wochenendmagazin der Tageszeitung «Dziennik Gazeta Prawna». Und diese Verbesserung der wirtschaftlichen Situation sei auch «die wichtigste Motivation, für die PiS zu stimmen». Angesichts dessen verwundert es nicht, dass die neue Regierung die Aufstockung des Kindergelds, eines Flaggschiffprogramms der PiS, ohne Änderung übernahm. Auf eigene Initiative beschloss sie ausserdem die Anhebung der Lehrer:innengehälter um dreissig Prozent.
Im Frühjahr 2024 stehen Kommunal- sowie die EU-Parlamentswahlen an. Derzeit befindet sich das neue Dreierbündnis nach seinem fulminanten Wahlsieg noch in den Flitterwochen. Nun müssen die Neuen zwar vieles besser machen als ihre Vorgänger:innen, aber zugleich auch einige PiS-Errungenschaften und Ansätze übernehmen. Ob sie wollen oder nicht.