Ukrainer in Polen: Ein Leben in Zerrissenheit
Nirgends in der EU leben so viele Ukrainer wie in Polen. Nun wächst auf sie nicht nur der Druck aus Kyjiw, sondern ebenso aus der polnischen Politik und Gesellschaft. Auch von vielleicht unerwarteter Seite.
Am 18. Mai trat in der Ukraine ein Gesetz in Kraft, das viele Ukrainer, die in europäischen Ländern leben, beunruhigt. Die Regierung in Kyjiw hat verfügt, dass sich alle männlichen Staatsangehörigen im wehrfähigen Alter – von achtzehn bis sechzig Jahren – registrieren beziehungsweise ihre bereits hinterlegten Angaben aktualisieren müssen. Auch dann, wenn sie im Ausland leben. Sechzig Tage Zeit haben sie dafür erhalten, also bis Mitte Juli. Tun sie das nicht, drohen Strafen.
Der Schritt bedeutet noch nicht die Mobilisierung, aber er wirkt sich direkt auf das Leben dieser Männer aus. Wer etwa vor dem Militärdienst geflohen ist, kann die Registrierung nur noch in der Ukraine vornehmen – worauf er das Land in der Regel nicht mehr verlassen darf. Im Ausland werden neue Pässe nur noch für Männer ausgestellt, die sich bereits registriert haben. Es sind Fälle bekannt, in denen Ukrainern, die schon lange vor Kriegsausbruch im Februar 2022 im EU-Ausland lebten, nach Besuchen in der Heimat die Ausreise untersagt wurde – anders als noch vor Verabschiedung des Gesetzes. Und nicht nur die Regierung in Kyjiw macht Druck. Auch manche europäische Regierungen zeigen sich offen, die ukrainischen Behörden bei einer etwaigen Rekrutierung dieser Männer zu unterstützen.
Kampf ums eigene Gewissen
So auch in Polen, wo so viele Ukrainer leben wie sonst nirgends in der EU. 370 000 sind bei der staatlichen Sozialversicherung registriert. Das Gros von ihnen ist – teils lange – vor dem Krieg hierhergezogen, und für die Mehrheit dürfte die ukrainische Wehrpflicht gelten.
Auch der 33-jährige Roman Tkaczenko* könnte im Fall der Mobilisierung auf keine der gesetzlichen Ausnahmen – wie sie etwa für Väter kinderreicher Familien oder von Kindern mit Behinderung oder schwerer Krankheit gelten – zurückgreifen. Der liierte, aber kinderlose Informatiker lebt seit rund zwölf Jahren in Polen. Er kam zum Studium hierher und arbeitet inzwischen für ein internationales Unternehmen, spricht fliessend Polnisch.
Im Gespräch erzählt Tkaczenko, dass er seit Jahren bei der zuständigen Armeestelle in der Ukraine registriert sei. Doch bis auf Weiteres würden Männer wie er «nicht gebraucht», wie er glaubt. «Ob ich selber an die Front gehen würde, wenn ich einen Bescheid erhielte? Das werde ich abwägen, wenn es so weit ist», sagt er. «Ich könnte bereits heute freiwillig in die Armee eintreten, aber ich tue es nicht, weil meine Familie hier ist, ich hier arbeite, die Wohnung meiner Mutter in Polen finanziere und ich vorhabe, auf Dauer in dem Land zu bleiben.» Im Fall des Falles, sagt Tkaczenko, würde er auch erwägen, seine ukrainische Staatsbürgerschaft abzugeben. Und wenn Polen ihn nicht einbürgern wolle, würde er womöglich nach Deutschland oder Nordamerika gehen, wo Verwandte lebten.
Die Gesetzesverschärfung durch Kyjiw sieht er als «politisches Manöver», das vor allem die Bevölkerung gegen die im Ausland lebenden Landsmänner aufbringen solle – daher habe sich die Regierung durch die Massnahme «diskreditiert», findet Tkaczenko. Denn für die im Ausland lebenden Ukrainer sei es weiterhin in erster Linie «ein Kampf mit dem eigenen Gewissen», wie er es nennt: «Muss ich in den Krieg oder nicht? Was tue ich selbst dafür, dass die Ukraine gewinnt?» Dies seien die Fragen, die einen nachts nicht schlafen liessen.
Doch viele Ukrainer in Polen schlafen derzeit noch aus einem weiteren Grund nicht ruhig. Polens Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz hat bereits Ende April angekündigt, Kyjiw bei der Rekrutierung von Ukrainern helfen zu wollen. «Die ukrainischen Bürger haben Pflichten gegenüber ihrem Staat», liess er verlauten. Polen sei in der Lage, «der ukrainischen Seite dabei zu helfen», dass Dienstpflichtige in die Ukraine zurückkehrten. In einem Interview mit dem britischen «Guardian» wurde Polens Aussenminister Radosław Sikorski Ende Mai sogar noch deutlicher: «Die Ukraine muss uns sagen, was wir mit ihren Bürgern tun sollen», sagte er. «Ich glaube jedenfalls nicht, dass es ein Menschenrecht auf soziale Sicherheit gibt, wenn man sich der Einberufung entzieht.»
Verzweifelte Nächte
In Polen kam die Botschaft bei vielen Ukrainern an. Der 47-jährige Oleg Kowalczuk* etwa wirkt innerlich zerrissen. Er stammt aus Saporischschja im Südosten der Ukraine und kam kurz vor Kriegsbeginn im polnischen Industrierevier Oberschlesien an. Er fühle sich orientierungslos, sagt er im Gespräch, obwohl er eine feste Arbeit in einem Industriebetrieb und eine Wohnung habe. Und obwohl auch seine Frau und seine Kinder mit ihm hier seien. «Ich habe in der Ukraine nichts, wohin ich zurückkehren kann», sagt Kowalczuk. Er erzählt von einem Bekannten, der aus Polen in die Ukraine zurückgekehrt und dort an die Front geschickt worden sei. «Ich habe telefonischen Kontakt mit ihm gehalten, doch seit ein paar Wochen kann ich ihn nicht mehr erreichen», sagt er.
Das Schlimmste sei, sagt Kowalczuk, dass in der Ukraine ein Krieg «zwischen Brüdern» ausgefochten werde. Dort hätten Ukrainer:innen und Russ:innen schliesslich immer schon zusammengelebt, «das war bei uns alles vermischt». Kowalczuk will nicht zurück. Er glaubt nicht, dass er dann wiederkommen würde. Er ist kräftig gebaut und wirkt gesund. Aber er erzählt, dass er viele Nächte damit verbringe, mit anderen Ukrainern zu trinken. «Nicht aus Lust», sagt er, «aus Verzweiflung.»
Kowalczuk ist nicht der einzige Verzweifelte. Die Zahl der Anträge auf internationalen Schutz, den ukrainische Männer stellen, ist bereits im ersten Quartal 2024 gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf das Vierfache gestiegen.
Gemäss aktueller Gesetzgebung, die erst Mitte Mai um eineinhalb Jahre verlängert wurde, sind ukrainische Staatsangehörige den Pol:innen in vielen Bereichen gleichgestellt. Mit über sechzig Prozent ist etwa die Erwerbsquote von Ukrainer:innen in Polen die höchste aller EU-Staaten. Und dennoch: Gemäss einer aktuellen repräsentativen Umfrage befürworten gut fünfzig Prozent der Pol:innen, dass Polen «Personen in die Ukraine zurückschicken sollte», die von der Armee mobilisiert würden.
Erklärbar macht dies zum einen wohl eine verbreitete Angst davor, dass Russland dereinst auch Polen angreifen könnte. Zum anderen aber auch die kriegsreiche geschichtliche Erfahrung, die in Polens Gesellschaft ein positives Kampf- und Soldatenethos verankert hat.
Druck auf die Ukrainer kommt hierzulande aber auch von vielleicht unerwarteter Seite. Von den vielen ukrainischen Frauen nämlich, deren Männer in der Heimat an der Front kämpfen. Nicht alle von ihnen äussern sich so verständnisvoll wie Halyna Khalymonyk*, die aus Odesa stammt und seit Beginn des Kriegs mit ihrer Tochter und ihrer Nichte in Polen lebt: «Als im Ausland lebender Mensch bin ich nicht in der Lage, über diejenigen zu urteilen, die Angst haben, im Krieg zu kämpfen», sagt sie. «Meine Helden sind jedoch eindeutig die tapferen ukrainischen Männer, die die Kraft und den Mut haben, sich der russischen Aggression zu stellen.» Mittlerweile sind Stimmen wie jene Khalymonyks in Polen oft zu hören. Sie verstärken die Zerrissenheit von Tausenden Ukrainern, die sich in Polen ein Leben aufgebaut haben.
* Name geändert.