Prämienschock im Tessin: Eine Ohrfeige zu viel
Im Tessin demonstrieren Hunderte gegen die übermässig steigenden Krankenkassenprämien. Zum dritten Mal in Folge erhöhten sie sich in der einkommensschwächsten Region des Landes derart, dass immer mehr Menschen kaum noch über die Runden kommen.
Gleich drei Ohrfeigen habe die Tessiner Bevölkerung in den vergangenen Wochen kassiert, sagt Fabrizio Sirica. In einer Rede wandte sich der Kopräsident der Tessiner SP am 2. Oktober auf der Piazza Nosetto in Bellinzona an einige Hundert Menschen. Sie hatten sich dort versammelt, um insbesondere gegen die jüngste Klatsche zu protestieren.
Die erste Ohrfeige kam Anfang September aus Bern. Der Bundesrat stimmte Motionen von zwei SVP-Parlamentarierinnen zu, die fordern, die Mindestfranchise von 300 Franken zu erhöhen. Als zweite Ohrfeige hatte die Tessiner Kantonsregierung Ende September – ausgerechnet einen Tag vor der Bekanntgabe des Prämienanstiegs – angekündigt, die Zuschüsse für die Prämienverbilligung 2025 um 10,5 Millionen Franken zu kürzen. Sirica geht davon aus, dass dadurch etwa 2000 Familien ihren Anspruch auf Verbilligungen ganz verlieren und Tausende weitere Personen weniger erhalten werden – in einem Kanton, wo heute jede dritte Person Prämienverbilligungen bezieht.
Und dann also, einen Tag später, die Botschaft, dass die Prämien 2025 im Tessin zum zweiten Mal in Folge um satte 10,5 Prozent steigen werden. Zum zweiten Mal in Folge belegt der Kanton damit landesweit den Spitzenplatz. 2025 erhöht sich die mittlere Monatsprämie im Landesschnitt um 6 Prozent. Der Anstieg im Tessin ist fast doppelt so hoch – nachdem hier die Prämien bereits 2023 um 9,2 Prozent angewachsen sind. «Insgesamt reden wir von über 30 Prozent Verteuerung in drei Jahren», sagt Sirica am Telefon.
Doppelt so hoch wie in Appenzell
Konkret heisst das: Ab 2025 ist die mittlere Monatsprämie im Tessin (472.70 Franken) die landesweit zweithöchste, nahezu doppelt so hoch wie jene im Kanton Appenzell Innerrhoden (257.90 Franken). Nur im Kanton Genf ist sie noch 5 Franken teurer. Doch während dort der durchschnittliche monatliche Bruttolohn deutlich über dem Schweizer Schnitt liegt, ist das Tessin gemäss der jüngsten Lohnstrukturerhebung von 2022 die mit Abstand einkommensschwächste Region des Landes. Hier schmerzen die 10,5 Prozent besonders. Da sind die 10,5 Prozent wahrhaftig ein Schlag ins Gesicht.
Die erheblichen kantonalen Unterschiede bei den Krankenkassenprämien ergeben sich durch verschiedene Faktoren. Dazu gehören der Grad der Urbanisierung und des Wohlstands und das Durchschnittsalter. Im Tessin ist laut Franco Cavalli vor allem der Faktor Spitaldichte ausschlaggebend. Der Krebsarzt und ehemalige SP-Nationalrat sagt: «Das mit Abstand grösste Problem des Tessiner Gesundheitssystems sind die Privatkliniken.» Er bezieht sich dabei auf eine Erhebung aus dem Jahr 2021, wonach damals rund 45 Prozent der Tessiner Spitalbetten in Privatspitälern und -kliniken standen – der mit Abstand höchste Anteil in der Schweiz.
Die private Medizin im Tessin ist ein lukratives Geschäft. «Kein privat angestellter Onkologe verdient weniger als eine halbe Million im Jahr, die meisten bis zu einer Million», sagt Cavalli. Hinzu kommt, dass die privaten Institutionen, in denen diese arbeiteten, staatliche Zuschüsse in Form von «Rückerstattungen für Dienstleistungen» erhalten – im Jahr 2022 etwa waren das gemäss Angaben des Kantons rund 107 Millionen Franken (rund 30 Prozent der Zuschüsse an alle Spitäler).
Mittlerweile hat das Tessin landesweit auch die höchste Dichte an medizinischen Spezialist:innen – eine Überkapazität, die kostet. Den eigentlichen Kostentreiber und damit das Hauptproblem sieht Cavalli aber im Schweizer Gesundheitssystem an sich. Ausgerichtet an der Maxime der Profitmaximierung, sei es durchsetzt von Fehlanreizen. Vor allem habe das die anhaltende Verschiebung von stationären medizinischen Leistungen in den ambulanten Bereich zur Folge.
Laut Cavalli erklärt sich das so: Immer mehr Leistungen, die früher während eines einzigen mehrtätigen Spitalaufenthalts erbracht wurden, werden heute auf möglichst viele ambulante Behandlungen ohne Übernachtung aufgeteilt. Demgegenüber wird der stationäre Aufenthalt der jeweiligen Patient:innen so kurz wie möglich gehalten. Da nun aber sowohl die Spitäler wie auch privat praktizierende Ärzt:innen im ambulanten Bereich pro Untersuchung oder Eingriff bezahlt werden, besteht der Anreiz, möglichst viele einzelne Leistungen zu erbringen.
Seit das Bundesparlament 2012 die Fallpauschalen einführte, wird jede stationäre Behandlung mit einem fixen Betrag vergütet. Für die Spitäler ergibt es somit rein ökonomisch Sinn, kleinere Eingriffe und Untersuchungen möglichst ambulant durchzuführen. Eine Blinddarm-OP etwa kostet immer und überall in der Schweiz gleich viel. Auch die Dauer des Spitalaufenthalts ist im Fallpauschalenkatalog festgelegt. Bleiben Patient:innen einen Tag länger im Spital, weil sie sich nach einer OP weniger schnell erholen, als es der Katalog vorsieht, macht das Spital minus. Also werden Patient:innen auch in solchen Fällen häufig nach Hause geschickt. Kommt es zu Komplikationen, werden sie erneut ins Spital bestellt – wo sie als neuer Fall abgerechnet werden können.
Dazu kommt: Der Anteil des Wohnkantons an der Vergütung beträgt für stationäre Behandlungen mindestens 55 Prozent, der Anteil der Krankenversicherer maximal 45 Prozent. An die ambulanten Untersuchungen dagegen zahlen die Kantone bislang nichts, die Kosten werden allein durch die Krankenversicherungen übernommen, die sie wiederum über steigende Prämien auf die Versicherten abwälzen. So können die Kantone auf dem Papier Kosten sparen – während die Prämienbelastung für die Bevölkerung weiter steigt. Aus diesem Grund befürworten und fördern viele der derzeit durchgehend bürgerlich dominierten Kantonsregierungen die Verschiebung zu immer mehr ambulanten Untersuchungen.
Kaum sonst wo im Land ist diese Belastung so stark zu spüren wie im Tessin. «Wir erhalten seit Wochen regelmässig Anrufe von Mitgliedern, die nicht mehr wissen, wie weiter», erzählt Antonella Crüzer, Generalsekretärin der Tessiner Konsument:innenschutzorganisation Associazione consumatrici e consumatori della Svizzera italiana (ACSI). Mit den erneut steigenden Prämien und den gekürzten Verbilligungen werde sich die Situation wohl noch verschärfen. Schon heute gingen viele Menschen, die selbst ihre Grundbedürfnisse kaum noch stemmen könnten, für Einkäufe, den Coiffeurbesuch, die Dentalhygiene oder den Restaurantbesuch zunehmend nach Italien, um Geld zu sparen. Crüzer hat vollstes Verständnis für dieses Vorgehen, gibt aber auch zu bedenken, dass Geschäfte und Leistungserbringer diesseits der Grenze dadurch in Bedrängnis gerieten – was wiederum der regionalen Wirtschaft schade.
Zeit für eine Einheitskasse?
Eine einfache Lösung gibt es für Crüzer nicht. Als wichtigen ersten Schritt hin zu einer Linderung sieht sie jedoch die Einführung einer Einheitskrankenkasse mit einkommensabhängigen Prämien. Eine Meinung, die Onkologe Franco Cavalli und SP-Ko-Kantonspräsident Fabrizio Sirica teilen. Cavalli war schon bei der 2007 an der Urne gescheiterten Volksinitiative «Für eine soziale Einheitskrankenkasse» federführend. Siebzehn Jahre später ist seine Überzeugung die gleiche geblieben: «Auf lange Sicht ist ein Gesundheitssystem, in dem eine Putzhilfe gleich viel zahlt wie Christoph Blocher, nicht tragbar.»
Im Tessin scheint nun nach langem wieder Bewegung in die Sache zu kommen. In Fabrizio Siricas Rede auf der Piazza Nosetto folgten auf die drei aufgezählten Ohrfeigen drei Vorschläge für «Sofortlösungen»: ein sofortiges Moratorium der Krankenkassenprämien im Tessin; ein Verzicht auf die Kürzung der Prämienverbilligungen in Höhe von 10,5 Millionen Franken; und schliesslich: die Forderung nach einer Volksinitiative zur Schaffung einer öffentlichen Einheitskrankenkasse, «um ein gerechteres und zugänglicheres Gesundheitssystem für alle Menschen zu gewährleisten». Eine ebensolche landesweite Initiative hat die SP Schweiz bereits im Juni, unmittelbar nach der verlorenen Prämienentlastungsinitiative, angekündigt.
«Wenn sich nicht bald etwas ändert, wird das System implodieren», sagt Cavalli.