Krise im Gesundheitswesen: Das Systemversagen

Nr. 45 –

Der liberalisierte Schweizer Spitalmarkt gefährdet zunehmend unsere Gesundheitsversorgung. Leidtragende sind die Patient:innen und die Angestellten, wie das neuste Beispiel aus St. Gallen zeigt.

Die vier öffentlichen Spitäler im Kanton St. Gallen bauen derzeit 440 Vollzeitstellen ab. Die ersten Kündigungen wurden bereits wenige Tage nach dem Ende September kommunizierten Entscheid ausgesprochen. Entsprechend mies ist die Stimmung in der Belegschaft: «Die meisten sind niedergeschlagen, ‹duuch›, demotiviert und in sich gekehrt», sagt Nathalie Frey, die im Kantonsspital St. Gallen eine Pflegestation leitet. Gemeinsam mit weiteren Pflegestationsleiterinnen organisiert sie zurzeit Widerstand gegen den Personalabbau, den die St. Galler Spitalverbunde an den Standorten in St. Gallen, Wil, Uznach und Grabs vorsehen.

Die Idee, eine Demonstration zu organisieren, habe schon vor dem jetzigen Stellenabbau bestanden: «Die Arbeitsbedingungen sind schon zuvor von Jahr zu Jahr schlechter geworden», sagt Frey. Es sei immer schwieriger geworden, die Schichtpläne zu füllen. Wegen der hohen Belastung komme es vermehrt zu Ausfällen, und wegen des Mangels an Fachpersonal blieben Stellen öfter unbesetzt. Eine Negativspirale: Schrumpft der Personalbestand, erhöht sich die Belastung für die Verbleibenden noch mehr. Es kommt zu weiteren Ausfällen und Abgängen.

Ein schweizweites Problem

Und genau in dieser angespannten Situation bauen die St. Galler Spitäler nach der Sparvorgabe des kantonalen Gesundheitsdepartements 440 Vollzeitstellen ab. Allein in der Pflege sollen 120 Vollzeitstellen wegfallen, betroffen sind offenbar aber sämtliche Spitalbereiche. Unter den Entlassenen sind gemäss der Gewerkschaft VPOD auch viele Personen, die nach Dutzenden von Berufsjahren kurz vor der Pensionierung stehen. Drei Viertel der Kündigungen sollen inzwischen ausgesprochen sein. Gleichwohl will die Spitalleitung erst im Rahmen der Jahresgespräche im Dezember mit den Gewerkschaften sprechen.

Für Nathalie Frey ist klar: «Als Folge des Stellenabbaus wird die gleiche Arbeitsbelastung künftig von noch weniger Personen getragen, was klare Abstriche bei der Betreuung der Patientinnen und Patienten bedeuten wird – während gleichzeitig die Überzeit und die emotionale Belastung des Personals steigen.»

Die St. Galler Spitalverbunde nennen als Grund für den Stellenabbau die «dramatische finanzielle Lage», die «einschneidende Massnahmen» verlange. Pro Jahr müssten über sechzig Millionen Franken eingespart werden, was «ohne einen Stellenabbau nicht zu erreichen» sei. Tatsächlich schreiben die St. Galler Spitalverbunde seit 2018 Defizite. Diese sind teilweise auf strategische Fehlentscheide sowie Mindereinnahmen aufgrund der Covid-Pandemie zurückzuführen – hauptsächlich ist die Situation aber Ausdruck eines schweizweiten Systemversagens: Immer mehr Universitäts-, Kantons- und regionale Grundversorgungsspitäler geraten in finanzielle Probleme. Die Folgen sind schwerwiegend, und sie gefährden die Versorgungssicherheit.

Am Ursprung dieser Krise steht die 2012 erfolgte Einführung eines von der nationalen Politik künstlich geschaffenen Spitalmarktes mit einem mengenbasierten Abgeltungssystem. Stationäre Behandlungen werden seither über ein Fallpauschalensystem abgegolten, das für einzelne Behandlungen und Eingriffe vordefinierte Fixpreise vorsieht. Mit diesen Pauschalen müssen die Spitäler all ihre Aufwände bestreiten. Das Problem: Die Fallpauschalen entsprechen oft nicht dem tatsächlichen Aufwand der Spitäler. Während einzelne Bereiche wie die Orthopädie lukrativ sind, werden manche Behandlungen zu tief vergütet (siehe WOZ Nr. 15/21), vor allem in weniger gut planbaren und personalintensiven Bereichen wie beispielsweise der Geburtshilfe, der Geriatrie und bei ambulanten Angeboten.

Kaum noch Nachwuchs

Um diese für die Gesundheitsversorgung zentralen Angebote finanzieren zu können, müssen öffentliche Spitäler deshalb interne Quersubventionierungen vornehmen – indem sie die lukrativen Fachbereiche forcieren. Dabei entsteht der Fehlanreiz, in diesen Bereichen einträgliche, aber medizinisch nicht notwendige Eingriffe vorzunehmen. Privatkliniken beschränken sich gar nur auf die lukrativen Bereiche – und bieten etwa ausschliesslich orthopädische Eingriffe an. Die Abdeckung der meisten lebensnotwendigen Angebote überlassen die Privaten der öffentlichen Konkurrenz. So entsteht in manchen Bereichen ein Überangebot, und es kommt zu unnötigen Eingriffen, die die Gesundheitskosten in die Höhe treiben; in anderen, mindestens so wichtigen Fachgebieten hingegen gibt es ein Unterangebot und eine Unterfinanzierung.

Statt diese Missverhältnisse anzugehen, drängen Bundespolitik und Krankenkassen die Spitäler in Anbetracht steigender Prämien zu immer weiter gehenden Effizienzsteigerungen. Und im Sommer legte der Bund eine Verordnung vor, die eine weitere Senkung der Fallpauschalen bedeutet: Für alle Spitäler soll künftig ein Basistarif gelten, der den Kosten der dreissig Prozent der günstigsten Spitäler entspricht. Heisst: Für siebzig Prozent der Spitäler ist der Tarif nicht kostendeckend.

Das ist ganz im Sinne der Erschaffer:innen der Spitalmarktliberalisierung von 2012: Sie wollten einen Spitalwettbewerb, in dem sich die kosteneffizientesten Spitäler durchsetzen – und der Rest schliessen muss. Wie irrig diese Idee ist, zeigt sich nun exemplarisch in St. Gallen: Müssten versorgungsrelevante Spitäler schliessen, würden ganze Regionen ohne Spitalversorgung dastehen. Weil das inakzeptable Folgen hätte, wird stattdessen gespart und dabei das Personal immer stärker belastet. Mit fatalen Folgen: Die Spitäler finden kaum noch Fachpersonal und Nachwuchs. Der sich fortlaufend verschärfende Fachkräftemangel gefährdet die Gesundheitsversorgung noch stärker als die durch liberale Ideologie verursachten finanziellen Probleme der Spitäler.

Ein «Umdenken» fordert deshalb Bernhard Pulver, Politiker der Grünen und Verwaltungsratspräsident der aktuell ebenfalls defizitär arbeitenden Berner Insel-Spitalgruppe. «Auch linke Parteien sprechen stets nur über die steigenden Gesundheitskosten», betont er. Doch für Pulver ist klar: Die Kosten oder Kostensteigerungen sind nicht das eigentliche Problem. «Ja, die Krankenkassenprämien sind für viele Menschen eine grosse Belastung, doch das liegt am enorm unsozialen Finanzierungsmodell der Schweiz», sagt er. Würde man vom aktuellen Kopfpauschalenmodell auf eine einkommensabhängige oder steuerbasierte Finanzierung umsteigen, wären die Gesundheitskosten auch für einkommensschwächere Haushalte tragbar.

«Es braucht höhere Tarife»

«Durch den verengten Fokus auf die Senkung der Gesundheitskosten wird der Service public, der das Gesundheitswesen eigentlich ist, immer weiter ausgehöhlt», sagt Pulver. Wenn dauernd Kostensenkungen gefordert würden, dürfe man nicht erstaunt sein, wenn es anschliessend zu einem Stellen- und Leistungsabbau komme. «Gleichzeitig tiefere Kosten und bessere Arbeitsbedingungen zu fordern, ist ein Widerspruch», ist Pulver überzeugt. «Es braucht höhere Tarife für die Spitäler.» Nur so könne es auch gelingen, die aktuelle Spirale von Leistungsabbau und Kostensteigerung in Bereichen wie der Orthopädie zu durchbrechen.

Auch Nathalie Frey vom St. Galler Kantonsspital hofft, dass die Tarife erhöht werden, «damit die Spitäler und Abteilungen künftig nicht mehr Leistungen erbringen müssen, die nicht kostendeckend abgegolten werden». Dann könnten auch endlich die Forderungen der 2021 angenommenen eidgenössischen Pflegeinitiative umgesetzt werden, die verbesserte Arbeitsbedingungen und eine Nachwuchsförderung verlangt. «Wir hatten uns auch über die Annahme der Pflegeinitiative gefreut, doch seither ist nicht viel passiert.»

Nachdem das Spitalpersonal bereits Ende Oktober eine Protestaktion durchführte, kommt es am Samstag in St. Gallen nun zu einer grossen, von Gewerkschaft und Berufsverbänden unterstützten Protestkundgebung. Viele der fast 9000 Spitalangestellten werden auf der Strasse sein und Verhandlungen verlangen. «Wir lieben unseren Job und wir lieben das Kantonsspital, aber wir wollen und brauchen korrekte Bedingungen für uns und unsere Patient:innen», sagt Nathalie Frey. Und fügt dann noch an: «Schade, dass wir uns dafür überhaupt wehren müssen.»