Prämienschock: Symptom­bekämpfung ohne Ende

Nr. 40 –

Eigentlich wüsste man, was zu tun wäre, um die Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen, ohne dabei die Grundversorgung zu schwächen. Doch die Interessen von Pharma- und Medizinalbranche sind stärker.

Inflation, rasant steigende Energiepreise – und dann kündigte Gesundheitsminister Alain Berset vergangene Woche auch noch die heftigste Anhebung der Krankenkassenprämien seit Jahren an: um 6,6 Prozent. In einem Punkt hat das Parlament rasch reagiert: National- und Ständerat stimmten einer gemeinsamen Motion von SP und Mitte-Partei zu, die AHV-Renten bis 2023 vollständig der Teuerung anzupassen. Die Motion hatte als zweiten Punkt auch verlangt, dass die individuellen Prämienverbilligungen für 2023 um 30 Prozent erhöht werden. Diesen Vorschlag hat die bürgerliche Mehrheit des Ständerats an die zuständige Kommission zurückgewiesen.

Sie betreibt damit ein fahrlässiges Spiel auf Zeit: Damit die Entlastungen, von denen Familien und Menschen mit tiefen und mittleren Einkommen profitierten, Anfang 2023 wirksam werden könnten, bräuchte es noch in diesem Jahr eine Gesetzesänderung. Sofortige, temporäre Entlastungen sind in Zeiten kumulierter Preisanstiege das eine – langfristige Lösungen das andere. Die Gesundheitskosten liegen in der Schweiz seit Jahren weit über dem europäischen Durchschnitt. Hilfspakete, wie sie SP und Mitte geschnürt haben, sind da nicht mehr als Symptombekämpfung. Ohne klaren Kurswechsel werden die Kosten immer weiter ansteigen. Und damit auch die Prämien.

Die unsinnigsten Kostentreiber

Warum also nicht endlich eine einkommensabhängige Prämie? SP-Nationalrätin Jacqueline Badran hat in ihrer Kolumne in der letzten «SonntagsZeitung» daran erinnert: Die Blockierer:innen einer erweiterten Prämienentlastung wischen weg, dass sie ein altes Versprechen brechen. 1996, bei der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG), stimmte die SP einer Kopfprämie zu – unter der Voraussetzung, dass die Prämien nicht mehr als acht Prozent des verfügbaren Haushaltseinkommens ausmachen dürfen. Inzwischen liegt die durchschnittliche Belastung bei vierzehn Prozent – die Zeit für ein progressives Prämiensystem, wie es in vielen europäischen Ländern Realität ist, wäre reifer denn je.

Ohne klaren Kurswechsel werden die Prämien weiter ansteigen.

Der Ständerat hat jedoch selbst die Prämienentlastungsinitiative der SP auf Eis gelegt, die tiefere Einkommen langfristig entlasten will, indem kein Haushalt mehr als zehn Prozent des steuerbaren Einkommens für Prämien ausgeben müsste. Immerhin hat der Druck dazu geführt, dass die Mehrheit der ständerätlichen Kommission im Mai in einem Gegenvorschlag einer Erhöhung des Prämienverbilligungsvolumens um über zwei Milliarden Franken zustimmte. Doch so realpolitisch klug und sozialpolitisch notwendig die SP-Initiative auch ist: Eine Annahme des Gegenvorschlags würde tiefere Einkommen zwar entlasten, nicht aber das Gesamtvolumen der Gesundheitskosten senken. Dass diese ohne gezielte Kostensenkungsmassnahmen immer noch weiter steigen werden, ist auch dem Bundesrat klar. 2019 hat er in seiner Botschaft zur Teilrevision des KVG ein erstes Massnahmenpaket verabschiedet und 2020 ein zweites als Gegenvorschlag zur Kostenbremseinitiative der Mitte in die Vernehmlassung geschickt. Doch der Prozess gestaltet sich schleppend. Von den fast vierzig Massnahmen, die im ersten Paket aufgelistet sind, konnten bislang gerade einmal drei umgesetzt werden.

Auch der Ansatz, mit dem die Mitte-Partei mit ihrer Volksinitiative die Kosten in den Griff bekommen will, ist nicht berauschend. Geht es nach der Mitte, sollen die Ausgaben im Gesundheitswesen direkt an die wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt werden. Was das in einer gröberen Wirtschaftskrise wohl für Folgen hätte: günstigere Prämien – und dafür eine schlechtere Grundversorgung? Nicht auszudenken. Wo aber wären die wirksamsten Hebel, um die Kosten zu senken und sie gleichzeitig möglichst sozial aufzuteilen – ohne dabei die Grundversorgung zu schwächen? Die Alterung der Gesellschaft, die von Bürgerlichen immer wieder gern als Grund für das Übel herangezogen wird, kann nicht geändert werden. Wo also ansetzen?

Bei den finanziellen Fehlanreizen: So erhalten Chirurg:innen in Schweizer Spitälern immer noch Boni, wenn sie häufiger operieren – was zu medizinisch unnötigen Untersuchungen und Operationen führt und in anderen Ländern aus genau diesem Grund verboten ist. Ebenso fragwürdig ist das Honorierungssystem bei Praxisärzt:innen: Weil jede Einzelleistung vergütet wird, verdient ein Arzt desto mehr, je schlechter es einem Patienten geht und je länger er krank ist. Eine Ärztin dagegen, die ihren Patient:innen rascher zur Gesundung verhilft, wird mit einem kleineren Salär bestraft. Kein Wunder, hat die Schweiz, verglichen mit anderen Ländern, eine extrem hohe Dichte an spezialärztlichen Praxen – was sich in Kantonen wie Zürich oder der Waadt, wo sie am höchsten ist, in besonders hohen Prämien niederschlägt. Auch dafür gibt es bessere Modelle – aus europäischen Ländern etwa, in denen Ärzt:innen im Monatslohn bezahlt werden.

Es gibt noch einen dritten Hebel, mit dem sich die Kosten markant senken liessen: die Medikamentenpreise. Rund neun Milliarden Franken zahlten die Grundversicherer letztes Jahr für Medikamente, das entspricht einem Viertel ihrer Gesamtausgaben. Die grössten Kostentreiber sind dabei mit rund 6,8 Milliarden Franken patentierte Medikamente. Doch nur schon gegen die Einführung eines Referenzpreissystems für Generika ist der Widerstand gross: Im Bundeshaus stellt sich einzig die SP-Fraktion geschlossen hinter eine solche Massnahme – obwohl Generika hierzulande im Schnitt doppelt so teuer sind wie im EU-Raum. Der «Kassensturz» konnte das vergangene Woche anhand von Stichproben aufzeigen – etwa am Beispiel aus einer französischen Gemeinde an der Genfer Grenze, wo ein bestimmtes Medikament nur ein Viertel des Genfer Preises kostete.

BAG und Pharma im Hinterzimmer

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist dafür verantwortlich, mit der Pharmaindustrie die Preise auszuhandeln. Doch was macht der Bundesrat? In einem Entwurf, der bis letzten Freitag in der Vernehmlassung war, sieht er vor, ausgerechnet diese Verhandlungen vertraulich zu halten – per Verordnung, am Parlament vorbei. Auslandspreisvergleiche etwa sollen fortan selbst per Öffentlichkeitsgesetz (BÖG) nicht mehr einsehbar sein. Und damit auch nicht, wie das BAG zur Festlegung der Preise kommt. Doch Thomas Christen, der stellvertretende Direktor des BAG, sieht darin kein Problem. Durch diese Vertraulichkeit, betonte er gegenüber dem «Kassensturz», werde der Zugang für die Bevölkerung zu den Medikamenten beschleunigt. Nur: Studien können das nicht bestätigen. Ein von der NGO Public Eye in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten kam nun zudem zum Schluss, dass eine umfassende Einschränkung des BÖG-Zugangsrechts in diesem Fall systemwidrig wäre und Geheimhaltungsbestimmungen nicht auf Verordnungsstufe geregelt werden können.

Fazit: Es gäbe durchau Hebel, um die Kosten zu senken, ohne dabei die Grundversorgung zu schwächen. Doch mit der Grundversicherung lässt sich viel Geld verdienen: Jahr für Jahr etwa 35 Milliarden Franken. Ihr Interesse geltend machen dabei längst nicht nur Big Pharma und die Versicherungen. Auch die Lobbyarbeit von Spitaldirektionen, Ärztinnen- und Apothekerverbänden oder Herstellern von medizinischen Geräten scheint zu wirken. Etwas ist faul im Gesundheitssystem Schweiz. So faul, dass selbst Mitte-Präsident Gerhard Pfister, ein überaus wirtschaftsfreundlicher Mann, im «Club» auf SRF am Dienstag vor einer Woche sagte: «Das Schweizer Gesundheitswesen ist schon lange kein Markt mehr, sondern ein Kartell.»