Auf allen Kanälen: Selenski und die Medien
Das ukrainische Präsidentschaftsbüro übt Druck auf Journalist:innen aus. Die Entwicklung war absehbar.

Überraschend kam das Statement der «Ukrajinska Prawda» (UP) nicht. Alle, die sich die Konferenz des ukrainischen Präsidenten Ende August vor der internationalen und nationalen Presse ansahen, konnten sich ein Bild davon machen, was Wolodimir Selenski von der im Jahr 2000 gegründeten Onlinezeitung hält – einem der einflussreichsten und meistgelesenen ukrainischen Medien.
Der UP-Journalist Roman Krawets stellte eine kritische Frage zum Team rund um den Präsidenten, dem auch der Beamte Oleh Tatarow angehört, der der Korruption verdächtigt wird. Selenski antwortete bissig, Tatarow habe «Tschetschenen in der Ukraine, in Kyjiw, getötet, als Sie nicht hier waren».
Schockierend und beschämend
Diese öffentliche Anfeindung des Journalisten, der wiederholte Ausschluss der UP von Veranstaltungen sowie der Druck auf Werbekunden, die Zusammenarbeit mit der «Prawda» zu beenden, veranlassten das Medium zu einem Statement: Vergangene Woche machte es die Öffentlichkeit auf den «anhaltenden und systematischen Druck» aufmerksam, den das Präsidialamt auf die Redaktion und bestimmte Journalist:innen der Zeitung ausübe. Die Entwicklung sei besorgniserregend, pflichten andere Journalist:innen bei. Es sei schockierend und beschämend, unabhängige Medien unter Druck zu setzen, erklärt Olga Rudenko, Chefredaktorin des englischsprachigen Nachrichtenportals «Kyiv Independent»: «Wenn jemand Unabhängige unter Druck setzt, stellt er sich nicht nur gegen eine Handvoll lästiger Journalisten, sondern gegen das eigene Volk und gegen die Demokratie», sagt sie zur WOZ und berichtet von eigenen Erfahrungen.
So sind die Journalist:innen des «Kyiv Independent» zum letzten Hintergrundtreffen mit dem Präsidenten nicht eingeladen worden. «Es war die Besprechung am Vorabend seiner USA-Reise, bei der er über den ‹Siegesplan› sprach», sagt Rudenko. «Für mich ist es unentschuldbar, dass der Präsident den Zugang zu Informationen über etwas so Entscheidendes für Millionen von Ukrainern einschränkt. Wir sprechen über den ‹Siegesplan›, über die Zukunft des Krieges und die Zukunft des Landes.» Diese Informationen seien für alle Menschen in der Ukraine relevant und könnten nicht auf loyale Medien beschränkt werden.
Diese Praxis Selenskis ist nicht neu: Bereits nach seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2019 wurde er immer wieder kritisiert, weil er unliebsame Journalist:innen nicht zu Medienkonferenzen einlud. Zu Beginn des russischen Angriffskriegs hielten sich viele mit Kritik zurück, aus Sorge vor schwindender Unterstützung im Westen und davor, der russischen Propaganda in die Hände zu spielen. Doch der Druck auf unabhängige Journalist:innen lässt sich nicht mehr kleinreden.
Besser als in Russland
Selenski habe früher für die TV-Sender der Oligarchen gearbeitet, sagt Jurij Nikolow, Mitbegründer und Herausgeber des investigativen Medienprojekts «Naschi Hroschi». «Er hat keine Ahnung, was normale Medien sind. Auch die Opposition betrachtet er als Feind.» Die Lage sei noch immer besser als in Russland, erklärt er und betont, dass der Krieg an sich noch immer die grösste Herausforderung für die Arbeit der ukrainischen Journalist:innen darstelle.
«Bisher wurden wir weder getötet, noch verletzt, noch aus dem Land geworfen, noch wurden unsere Redaktionsräume geschlossen», sagt Nikolow. «Besteht eine solche Gefahr? Ich hoffe nicht.» Aber er sei sicher, dass keine Person im Präsidialamt die Bedeutung einer unabhängigen Presse für die Entwicklung des Landes und der Demokratie verstehe. Im Januar wurde Nikolow selbst zum Ziel von Anfeindungen, als Unbekannte an seine Wohnungstür klopften und Schilder hinterliessen, auf denen sie ihn als «Wehrdienstverweigerer» und «Provokateur» beschimpften.
Sorgen bereitet vielen Medienschaffenden der «Telemarathon» – eine Programmzusammenlegung grosser TV-Sender, die den Beamten seit Beginn der russischen Invasion als Plattform dient. Diese zeichnet laut der in den USA lebenden Journalistin Tanya Kozyreva ein zu positives Bild von den Fortschritten der Ukraine im Krieg: Diese «Illusion» aufrechtzuerhalten, die Kluft zwischen der düsteren Realität an der Front und jener im Fernsehen zu überbrücken, werde zu einer immer grösseren Herausforderung für das Präsidialamt. Da sind kritische Medien nur ein Störfaktor.