EU und Ungarn: Illiberale Herausforderung
Ungarns Ratspräsidentschaft stellt die EU vor Probleme. Doch die Orbán-Regierung ist längst keine periphere Freakshow mehr, ihre Politik findet mehr und mehr Anklang.
Mitte letzter Woche besuchte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán das europäische Parlament in Strassburg. Es wurde das zu erwartende Spektakel: Linke Abgeordnete protestierten unter anderem mit einer «Bella ciao»-Gesangseinlage, rechte feierten Orbán mit frenetischem Applaus, und mittendrin lieferten sich Ursula von der Leyen und der Gast aus Budapest einen Schlagabtausch. Die Präsidentin der EU-Kommission warf Orbán in erster Linie seine Russlandnähe vor: das Festhalten an russischem Gas und die erleichterten Visaregeln für russische Staatsbürger:innen.
Gekommen war Orbán – wegen des Hochwassers in Mitteleuropa mit einigen Wochen Verspätung –, um das Programm seiner Ratspräsidentschaft vorzustellen, so wie es die europäischen Gepflogenheiten vorsehen. Im Juli, kurz vor der Sommerpause, fiel diese turnusgemäss Ungarn zu. Prompt begab sich Orbán erst einmal auf selbsterklärte «Friedensmission» nach Kyjiw, Moskau und Peking, um sich unter anderem mit Wladimir Putin auszutauschen (siehe WOZ Nr. 28/24) – zur Empörung von EU-Vertreter:innen und vielen europäischen Staatschef:innen.
Konsensfähige Migrationsabwehr
Drei Monate später fand der Konflikt nun im Strassburger Parlament eine Fortsetzung. Wer darin jedoch, wie die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», vor allem eine «Abrechnung» von der Leyens mit Orbán sah, verkannte, dass die Konstellation – hier die machtvolle Repräsentantin des europäischen Establishments, dort der aus der christdemokratischen EVP-Fraktion ausgestossene Paria mit seinen Ideen eines «illiberalen Staats» – längst nicht mehr so eindeutig ist. Vielmehr findet Orbáns Ideologie, ein autoritärer, christlicher Patriotismus, gestützt auf rabiate Migrationsabwehr und Queerfeindlichkeit, inzwischen quer durch Europa immer mehr Anklang.
Auch in Strassburg kanzelte Orbán die europäische Asylpolitik als «nicht funktionsfähig» ab, forderte einen Schengen-Gipfel zur Erörterung der «Sicherheitsprobleme» und verglich die aktuelle «Migrationskrise» mit jener von 2015. Damals hatte der Bau eines Zauns an den ungarischen Grenzen, um die Balkanroute zu schliessen, im Westen der EU für Empörung gesorgt. Die Entwicklung seither fasste Orbán kürzlich so zusammen: «Seit 2015 hat jeder gesagt, ich sei ein Idiot oder böse, weil ich diesen Standpunkt vertrete. Aber am Ende werden mir alle zustimmen.»
Von «alle», das zeigte sein Auftritt in Strassburg, kann zwar keine Rede sein. Doch unbestritten ist das, was der dienstälteste Regierungschef der EU dort vorschlug, längst konsensfähig – und zwar nicht nur bei den Mitgliedern seiner rechten Sammelfraktion Patrioten für Europa, inzwischen die drittstärkste im EU-Parlament. Asylsuchende an den Grenzen aufzuhalten und sie in Zentren ausserhalb der EU auf ihren Bescheid warten zu lassen, dieses Prinzip ist in Form zahlreicher asylpolitischer Offshore-Konzepte längst Bestandteil des Diskurses in den meisten Mitgliedländern. «Ich bin gekommen, um die Alarmglocken zu läuten», so Orbán in Strassburg: «Die EU muss sich verändern.»
Dieser Prozess hat längst begonnen. Auffällig dabei ist, dass gerade Deutschland, 2015 unter Angela Merkel noch der grosse Gegenspieler Ungarns, inzwischen grosse Schritte zur Verschärfung seines Grenzregimes macht. In Österreich träumt Herbert Kickl, Chef der rechtsextremen Wahlsiegerin FPÖ, unverhohlen von der «Orbánisierung» seines Landes. In den Niederlanden brüstet sich die neue Rechtsregierung damit, die strengste Asylpolitik der EU anzustreben und – genau wie Ungarn – aus der gemeinsamen EU-Migrationspolitik aussteigen zu wollen. Dass dies auf Widerstand aus Brüssel stösst und kaum realistisch ist, tut wenig zur Sache. Der Ton ist damit gesetzt, zudem streben die Niederlande und Ungarn eine Kooperation mit weiteren einwanderungsfeindlichen Regierungen an.
Europäische Zusammenarbeit in einem neuen, rechten Gewand – dieser Anspruch zeugt vom gewachsenen Selbstbewusstsein im Lager der Patrioten für Europa. Und es ist ein Ansatz, der im weiteren Sinne typisch ist für die ungarische Ratspräsidentschaft, die unter dem Motto «Make Europe great again» steht. Deren weitere Prioritäten dürften gerade für von der Leyens christdemokratische EVP-Fraktion gar nicht so abwegig klingen. Insbesondere dem «European New Deal» zur Wettbewerbsfähigkeit oder einer «bäuer:innenzentrierten EU-Agrarpolitik» dürfte die Zentrumsfraktion kaum ablehnend gegenüberstehen.
Bürgerliches Amalgam
Just mit solchen Punkten ist Ungarns Regierung im bürgerlichen Spektrum anschlussfähig. Seine Russlandnähe stand Orbán dabei bislang nicht im Weg. Und solange Migrationsabwehr, Genderbashing und christliche Familienpolitik als Amalgam fungieren, ist nicht davon auszugehen, dass sich das ändert.
Das Potenzial dieses Konsenses zeigt sich in Polen, das im Januar die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird. Ausgerechnet Premierminister Donald Tusk, beim Wahlsieg über die nationalistische PiS-Regierung 2023 als Hoffnungsträger gefeiert, kündigte letzte Woche an, illegale Einwanderung «gnadenlos» zu bekämpfen und dazu vorübergehend auch das Asylrecht ausser Kraft zu setzen.