Nick Cave und Bruce Springsteen: In der Regel bleibt der Pegel

Nr. 42 –

Zwei therapierte alte Rockmänner haben das 20. Jahrhundert überlebt – und vergrössern ihre Gemeinde.

Viele Kulturkämpfe sind Scheingefechte. Wer möchte zum Beispiel ernsthaft verhindern, dass Männer keine Frauen und Kinder und am besten auch keine anderen Männer schlagen, missbrauchen, ermorden? Wer kann dagegen sein, dass Arbeitsplätze besser auf Machtmissbrauch durchleuchtet werden? Wie schön, wenn man solche Probleme unter dem Aspekt einer Lösung besprechen könnte. Stattdessen führen wir auch diese Fälle mit den Begriffen «Kultur» und «Kampf» auf das Schlachtfeld der Meinungen, wo sogenannte soziale Medien die Spielregeln aufstellen.

In diesem Reizklima besteht für ältere Männer besondere Gefahr, ein Arschloch zu werden – mit Pech endet man als schimpfender Troll, mit etwas mehr Glück als opportunistischer Trottel. Bei sich und dennoch weich zu bleiben, das wäre die Lebenskunst. Da die entmachtete Kirche ein spirituelles Vakuum hinterlassen hat, die Arbeitswelt die ruhigere Kugel für Ü-50-Männer kaum mehr bereithält und der alkoholisierte Stammtisch in der Beiz mit dem toxischen Internet vertauscht wurde, kann nur noch die Rockmusik weiterhelfen. Zum Beispiel Bruce Springsteen (75). Im Zürcher Kampa-Verlag ist eine neue Zusammenstellung von sehr alten bis älteren Interviews mit dem Boss erschienen: «Born to Sing». Aber dazu später mehr.

Erst zu einem anderen, dem aktuell erstaunlichsten Role Model des Rock and Roll, dieser Kunstform aus dem 20. Jahrhundert: Er töpfert jetzt! Ausgerechnet Nick Cave (67). Zwei Jahrzehnte lang nahm er Heroin. Seit seinen frühen Zwanzigern war der Australier ein Rockstar, der die Dunkelheit auf der vernebelten Schwelle zwischen Inszenierung und Leben feierte, in London, Berlin und wieder in England. Seine erste Band hiess The Birthday Party, was ironisch gemeint war, ganz anders als der Name der zweiten Band ab 1984, The Bad Seeds, die böse Saat. Selbst sein späteres Krachprojekt Grinderman trägt, wenn man will, eine Todesart im Titel, nämlich das Zermalmen.

Kapellmeister an Kinderorgel

Es wurde Cave in den letzten gut vierzig Jahren vorgeworfen, seine Texte würden Mörder verherrlichen und Frauen am liebsten als Leichen sehen. Das kann man so sagen, wenn man die Nase auf die Buchstaben der Songtexte drückt, bis das Werk, das Genre und die Kunst verschwinden. Cave spielt stets mit kulturell überlieferten und mit religiösen Bildern, die von Schmerz, Gewalt und Trauma handeln und später von deren Überwindung.

Seit der Tournee mit dem Album «Skeleton Tree» vor sieben Jahren kündet seine Kunst von einem Wandel. Als würde der Entertainer auf der Erdenbühne, auf der er sich schreiend wälzte, den Blick nun Richtung Himmelszelt richten. Gospelchöre jubilieren, und Warren Ellis, sein zauseliger Kapellmeister, spielt Geige, Gitarre oder Kinderorgel so innig wie beim Pfingstgottesdienst. Die Konzerte sind seitdem nicht nur ein musikalisches Ereignis, sondern auch eine Performance der Kommunion, ein Ritual der Verbindung. Nick Cave berührt die Hände der Fans, gibt das Mikrofon aus der Hand, singt direkt von der Liebe und davon, dass der heilige Geist niederkomme und in unsere Körper fahre. «Bring your spirit down» heisst es in grossen Lettern auf den Screens der aktuellen Tournee, die vor ein paar Wochen in Berlin haltmachte.

Es war mein drittes Cave-Konzert in sieben Jahren. Jedes war grossartig. Und schickte mich mit der Frage in die Nacht: Wurde der schroffe Theaterteufel Cave zum achtsamen Prediger Nick?

Wie immer bei Nick Cave lohnt sich ein zweiter Blick, auf seine selbstgetöpferte Keramik eben, wie sie das englische Bürgertum im 19. Jahrhundert auf den Kaminsims stellte. Cave töpfert dann doch einen Teufel nach dem anderen und ein Kind, das dem Gehörnten die Vergebung gönnt. Die erste Keramikfigur, an der er sich probierte: ein Heiliger, der in kochendem Öl schmort. Die Obsessionen bleiben dieselben, nur der Umgang mit ihnen ist ein anderer.

Es ist eine religiöse Denkfigur, an der Caves Kunst festhält: Wer durch den Schmerz geht, wird die Liebe – zu einem Gott, zur Menschheit, zur Partnerin – brauchen, um nicht unterzugehen. Das ist zum Teil biografisch grundiert. Cave und seine Frau, die Modedesignerin Susie Bick, verloren 2015 einen ihrer fünfzehnjährigen Zwillingssöhne bei einem Felssturz an der englischen Küste.

Es gibt keinen Sänger, der so offen sein Leid geteilt hat und dabei doch nicht der Seelenschau verfiel. Statt auf Social Media seine Trauer auszustellen, sprach er mit seinen Fans und hörte ihnen zu. Auf dem Blog «The Red Hand Files», fern jeder Plattform, beantwortet er Fragen seines Publikums, es sind über 300 Einträge. Und das vor zwei Jahren erschienene Gesprächsbuch mit dem Kritiker Seán O’Hagan, «Glaube, Liebe und Gemetzel», ist viel mehr als eine Reihe von Pandemieprotokollen. Auch diese Interviews sprechen über den Tod des Sohnes, verbinden die Trauer aber mit Fragen der Liebe, der Depression, der Drogen, immer wieder des Songschreibens und wie all das die Konzerterfahrung verändert hat.

Auf Caves jüngst erschienenem Album, «Wild God», gibt auch die Musik preis, warum die Hinwendung zum Publikum nicht ins Guruhafte schlittert. Im Titelstück steigt ein alter Gott herab; die Menschen fragen ihn, ob der Schmerz je aufhören werde. Er antwortet: «It depends, but it mostly never ends» – in der Regel bleibt der Pegel. Das ist entscheidend für Cave: Es geht nicht um Heilung, sondern um Akzeptanz der Lücke auch im Alltag. Die Zweifel über die grossen Fragen verschwinden nicht. Gibt es Vergebung von Schuld, ein Leben nach dem Tod, ein Gespräch mit den Toten? Cave präsentiert sich auf dem Blog, im Buch und auf der Bühne nie als Mansplainer oder als Sektenführer, als «cult leader», wie er im Buch scherzt. Daran hindern ihn bewährte Hausmittel: Humor, Selbstironie und immer wieder der Zweifel, ob man auf dem richtigen Weg ist oder sich schon wieder vor etwas drückt.

Rock and Roll war auch immer eine Kunst des Weglaufens – von zu Hause, von den Partner:innen, den Kindern, vor der Arbeitslosigkeit, vor Diskriminierung wegen Hautfarbe, Herkunft, Brille, Schüchternheit oder einer anderen Differenz zum engen Standardkorridor. Es fiel Bruce Springsteen 1992 in einem Interview mit dem US-amerikanischen «Rolling Stone» selbst auf, dass die Figuren seiner Songs ständig im Auto und unterwegs waren. Und 1975, nach seinem Durchbruch mit dem Album «Born to Run», reflektiert der katholische Sohn von irisch-italienischen Eltern, damals praktisch Migrationshintergrund, über seine legendär langen Konzerte, er habe offenbar ein Anerkennungsproblem: Er muss immer weiterspielen, er muss sich erschöpfen und fühlt sich selbst dann nicht genug geliebt. Das steht in einem verloren geglaubten, sehr langen Interview von Springsteen mit einem unbekannten schwedischen Journalisten, das Cornelius Reiber für das Buch «Born to Sing» mit einem guten Ohr für den firlefanzfreien Punch des US-amerikanischen Englischs übersetzt hat.

Vater ohne Diagnose

In seiner Autobiografie teilt Springsteen 2016 freimütig mit, woher diese Unruhe kommt. Er spricht über Jahrzehnte von Therapien, von einer bipolaren Störung, wie sie auch der Vater hatte, allerdings ohne Diagnose. Von Aggression und auch Gewalt am Küchentisch. Manchmal berichtete Springsteen an Konzerten davon: Welcher Vater lässt den Coiffeur ins Spital kommen, wo der verunfallte Sohn liegt, um dem Wehrlosen die langen Haare abzuschneiden? Welche Väter schwafeln davon, dass die Armee schon noch einen richtigen Mann aus einem machen werde?

Und welche Väter fragen ihre Kinder im Alter von zwölf Jahren, was sie denn im Leben eigentlich schon erreicht hätten, wie Papa Cave den kleinen Nick? Die Antwort: wohl ziemlich viele Väter des 20. Jahrhunderts. Das Jahrhundert der Bomben und Vernichtungslager und das der Männer, die den Druck an ihre Kinder weitergeben. Die Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg hinterlässt Spuren in den Körpern. In einer noch viel patriarchaleren Gesellschaft, als sich das junge Leute heute vorstellen können, stieg der Suchtmittelgebrauch rasant, um den Wettbewerb um Wohlstand, Häuser, Autos auszuhalten (wer das alles nicht hatte, war selber schuld …). Auch darüber spricht der alte Rock ’n’ Roll gerne: Alkohol und Nikotin waren seine ständigen Begleiter, als Drogen galten andere Dinge.

Springsteen und Cave zeigen, wie man aus diesen Spiralen von Druck, Trauma und Suchtmitteln herauskommen kann, indem man sich öffnet. Und was man dann möglicherweise gewinnt: die Erkenntnis, dass da jemand sitzt, zuhört, spricht oder schreibt, der oder die etwas zu sagen hat und etwas zurückgeben kann. Im Publikum, im Himmel, dazwischen. Ob man danach etwas trinkt oder eine raucht, sollte allen selbst überlassen bleiben.

Nick Cave & The Bad Seeds live: Di, 22. Oktober 2024, Zürich, Hallenstadion.

Bruce Springsteen: «Born to Sing. Ein Leben in Gesprächen». Kampa Verlag. Zürich 2024.