Rheintunnel: Eine ganze Kindheit im Baulärm
Die Kleinbasler Dreirosenanlage soll dem Autobahnausbau weichen. Der Park hat einen schlechten Ruf – für viele Jugendliche ist er aber unverzichtbar.

Umschlossen von Verkehrsachsen, Schulen und dem Rheinbord, liegt mitten im Kleinbasel die Dreirosenanlage. Ein Streifen Grün, ein Basketballplatz, noch ein bisschen Grün und dann Geräte fürs Muskelturnen. Ein Ort, an dem die Stadtplanung nach jahrzehntelanger Vernachlässigung so viele Nutzungen wie nur möglich reingepackt hatte. Ausdruck einer Basler Politik, die sich nie besonders für die Bedürfnisse dieses Stadtteils mit hohem Anteil fremdsprachiger Bevölkerung interessiert hat.
Diese Dreirosenanlage soll dem geplanten Autobahnausbau in Basel zum Opfer fallen und ab 2029 während zehn Jahren zum «Installationsplatz» des Rheintunnels werden. Mit der Rheinunterquerung will der Bund die Kapazität der stark befahrenen A2, die über Basel nach Frankreich und Deutschland führt, um vier Spuren erweitern. Ein gigantisches Projekt, das freie Fahrt für Transitreisende und Berufspendler:innen verspricht – und die Lasten dafür bereits heute marginalisierten Teilen der Gesellschaft aufbürdet.
«Jugendliche haben null Chancen»
Manuel Raemy leitet das Jugendzentrum Dreirosen, das im Bauch der an die Parkanlage angrenzenden Dreirosenbrücke untergebracht ist. Er sagt: «Die Dreirosenanlage ist identitätsstiftend fürs ganze Quartier.» Seit sechs Jahren arbeitet Raemy dort. Jeden Tag sieht er Sportler:innen am Trainieren oder Familien mit ihren Kindern auf der Wiese, Asylsuchende aus dem nahen Bundesasylzentrum, die den Tag rumkriegen wollen, Schüler:innen und Jugendliche aus dem ganzen Quartier und auch Dealer:innen und Drogenkonsumierende. «Dieser Ort ist integraler Bestandteil ganz vieler Lebenswelten», sagt Raemy.
Wie jener von Jamie (14), der täglich aus einer ganz anderen Ecke Basels zur Kraftstation fährt. Natürlich sehe er die Drogenhändler, «aber die machen dir nichts», sagt er. Anna (16) aus der Ukraine sagt zwar, sie habe Angst vor den Dealern, die ihr jeden Tag Hasch anböten – doch die Anlage sei für sie unverzichtbar. Shanaya (13), die jeden Tag mit ihren Freund:innen im Park oder im Jugendzentrum anzutreffen ist, wünscht sich, die Dreirosenanlage würde für immer bleiben.
Alle drei sind Protagonist:innen im neuen Dokumentarfilm «Gewalt auf der Dreirosenanlage». Der Kleinbasler Sozialarbeiter Endrit Sadiku hat für seinen Film den Mikrokosmos Dreirosen erforscht. Der ja vor allem in der öffentlichen Debatte ein «Unort» ist. «Der gefährlichste Ort Basels», titelte der «Blick». «Mehr Drogen als in Mexiko», schrieb «20 Minuten». Ein «Failed State», tobte die SVP. Längst ist die Anlage zum Experimentierfeld staatlicher Repression geworden. Sechzehn Polizeikameras überwachen den Park rund um die Uhr und neuerdings – weil der Drogenhandel ins Quartier ausweicht – auch die Strassen rundherum. Begleitend führt die Polizei unzählige Kontrollen durch: Allein vergangenen März und April waren es 1300 Personenkontrollen, die sich vor allem gegen Geflüchtete richteten. Dazu patrouillieren sogenannte Dreirosenranger im kleinen Park.
Trotz aller Probleme und der enormen Stigmatisierung, so Sadiku, habe er in unzähligen Gesprächen gemerkt, wie fest viele an der Anlage hingen. Falle sie weg, werde das für viele Jugendliche ganz schwierig. Sadiku fordert, dass die Bedürfnisse der Jugend bei den Planungen nicht übergangen werden: «Bislang diskutiert man alles top-down. Jugendliche haben in dem Prozess null Chancen, gehört zu werden.»
Wenn die Dreirosenanlage ausfalle, müssten ihre Funktionen an anderen Orten ersetzt werden, fordert Manuel Raemy, der Jugendarbeiter. Insbesondere das Jugendzentrum müsse möglichst nahe am bisherigen Standort eine temporäre Bleibe finden. Doch bis heute ist unklar, was wie und wo ersetzt wird. Zwar hat das Basler Bau- und Verkehrsdepartement einen gleichwertigen Ersatz für den Park versprochen, doch die dabei favorisierte Lösung wird das kaum leisten können. Die Stadt will flussabwärts einen Teil der Trasse der Hafenbahn umnutzen: Das wäre ein schmaler Streifen Freiraum ziemlich weit weg vom Matthäusquartier, das sonst keinen Grünraum aufweist. Eine andere Variante sieht einen Ersatz der Dreirosenanlage auf der anderen Rheinseite vor. So viel Missachtung des Kleinbasels war noch selten.
Doch vielleicht ist alles eine Frage der Perspektive: Die Bauzeit solle nicht nur als Störung erscheinen, sondern «auch als impulsgebende Chance genutzt werden», heisst es im Planungsbericht zur Baustelle. Denn in den nächsten Jahrzehnten soll auf dem benachbarten Industrieareal ein neuer Stadtteil entstehen, gebaut von privaten Investoren. Wer dann von den bisherigen Nutzer:innen auf der neuen Dreirosenanlage noch erwünscht sein würde, ist eine andere Frage.
Ungeklärt ist auch, wie der Betrieb der angrenzenden Primar- und Sekundarschule möglich sein wird, wenn schwere Maschinen die Tunneleinfahrt bauen und Lastwagen um Lastwagen der Schutt über die Klybeckstrasse weggeführt wird. Beim Basler Erziehungsdepartement heisst es, man habe sich noch nicht damit beschäftigt. Der Schulleitung selber hat das Departement einen Maulkorb verpasst. Doch die Konflikte verschwinden nicht, wenn man sie verschweigt. «10 Jahre Baustelle – eine ganze Kindheit», heisst es selbst im Planungsbericht des Baudepartements, als es um die gravierenden Auswirkungen des Tunnelbaus für die Kinder im Matthäusquartier geht.
Mobilisierung vor der Abstimmung
«Null Rücksicht», sagt Tonja Zürcher, würde dabei auf die Bedürfnisse des Quartiers genommen, sonst wäre die Tunnelführung anders konzipiert worden. Zürcher ist BastA!-Grossrätin und eine der wichtigsten Stimmen im Protest gegen den Rheintunnel. Sie erwartet zig Meter hohe Lärmschutzwände um die Baustelle, Lärm rund um die Uhr und enormen Lastwagenverkehr auf den Schulwegen: «Für eine Generation von Schüler:innen wird der Schulbetrieb schwer beeinträchtigt.» Zürcher wirft der Basler Regierung Passivität vor. Sie wehre sich nicht beim Bund für die Quartierbewohner:innen. Und informiere diese noch nicht mal vor der wichtigen Abstimmung zum Autobahnausbau am 24. November. In zahlreichen Gesprächen habe sie festgestellt, wie wenig selbst Anwohner:innen Bescheid wüssten, was auf sie zukomme.
Anfang Oktober, an einem Vernetzungstreffen gegen den Rheintunnel. Etwa fünfzig Aktivist:innen sitzen in einem Kleinbasler Quartiertreff und diskutieren, wie sie die Nein-Kampagne führen wollen. Ihr Ziel: siebzig Prozent Ablehnung in Basel-Stadt. Ein deutliches Nein am Standort, so die Hoffnung, könnte den Bund dazu bewegen, das Projekt wieder fallen zu lassen.
Doch dem Widerstand fehlen die Ressourcen, ob geplante Aktionen zustandekommen, ist ungewiss. Immerhin soll es bald eine grosse Demo geben, die von der Innenstadt zur Dreirosenanlage führt und sich als Menschenkette schützend um diese stellt. Zu hoffen ist: dass es ein ganzer Menschenteppich wird.
Der Film «Gewalt auf der Dreirosenanlage» wird am 24. Oktober 2024, 19 Uhr, in der Freizeithalle Dreirosen gezeigt. Der Eintritt ist kostenlos.