Grüne Krise?: Das lächelnde Feindbild

Nr. 43 –

Die Grünen verlieren oder stagnieren bei den kantonalen Wahlen: Wie reagiert die Parteispitze, was denkt die Basis? Und welche Strategie verfolgt währenddessen die SP?

Foto der Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone
«Gerade auf dem Land haben wir engagierte Mitglieder»: Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone an der Delegiertenversammlung letzten Samstag in Herisau. Foto: Gian Ehrenzeller, Keystone

Schon wieder vier Sitze weniger: Die Grünen sind die Verlierer:innen der kantonalen Wahlen am vergangenen Sonntag im Aargau. Wie zuvor schon in St. Gallen (minus drei Sitze), im Thurgau (minus zwei), in Schaffhausen (minus zwei). Einen Sitzgewinn gab es immerhin in Schwyz, gehalten hat die Partei ihre Sitze in Uri und ebenfalls letzten Sonntag in Basel-Stadt. Seit den eidgenössischen Parlamentswahlen vor einem Jahr, als die «grüne Welle» gebrochen wurde und sich die rechtspopulistische SVP als grosse Wahlsiegerin feiern lassen konnte, zeigt der Trend nach unten.

Lisa Mazzone, die neue Präsidentin der Grünen, klingt am Montag nach den Wahlen im Aargau und in Basel-Stadt trotzdem nicht niedergeschlagen, sondern gut gelaunt und auf Angriff eingestellt. Von einer Negativspirale will sie nichts wissen: «Bleiben wir bei der richtigen Erzählung: Die Geschichte der Grünen ist ein stetiges Auf und Ab. Wir sind trotz der leichten Verluste noch immer deutlich stärker als vor der grünen Welle bei den Wahlen 2019. Das ist entscheidend.»

Diese Einschätzung teilt der Politikwissenschaftler Werner Seitz, Ko-Autor einer Geschichte der Grünen in der Schweiz: «Die aktuelle Bilanz der Grünen bei den kantonalen Wahlen ist immer noch eine der besten ihrer Geschichte. Sie liegen weit über dem Tiefschlag von 2015.» Damals hatten die Grünen 175 Mandate in den Kantonsparlamenten, heute sind es 249. Knapp halten konnte sich im gleichen Zeitraum die SP: Sie hatte damals 454 Mandate, heute sind es 442.

Und doch stellen sich für die Grünen, und nicht nur für sie, unbequeme Fragen: Warum kann die SVP mit ihrer Dauerproblematisierung von Geflüchteten punkten, obwohl die Zahl der Asylgesuche in der Schweiz derzeit sinkt und sich der vielzitierte Asylnotstand nirgends besichtigen lässt – sofern man darunter nicht die notdürftige Unterbringung von Geflüchteten versteht? Weshalb ist gleichzeitig das Klimadesaster kaum Thema, obwohl sie auch hierzulande längst tödliche Folgen zeitigt, bei den Unwettern diesen Sommer im Tessin oder im Wallis? Mit anderen Worten: Warum schafft eine mehr oder minder eingebildete Krise politische Realitäten, während die Extremwetter nur am Bildschirm zu existieren scheinen?

Vogel Strauss in Bern

«Fast niemand leugnet heute noch die Klimakatastrophe, doch viele fühlen sich überfordert», meint Mazzone. «Sie wissen längst, dass es grosse, einschneidende Konsequenzen bräuchte, und unsere Aufgabe ist es, zu zeigen, dass dies auch eine Chance für ein besseres Zusammenleben bietet.» Der Bundesrat und das Parlament hingegen lebten der Bevölkerung ein Vogel-Strauss-Verhalten vor, steckten den Kopf in den Sand. «Anstatt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen, stellen sie das Gericht in Strassburg infrage und sparen beim Klimaschutz.» Überhaupt, dieser «No-Future-Bundesrat», wie ihn Mazzone bezeichnet, weil er die nachfolgenden Generationen komplett ignoriere: «Armee, Autobahn, Atom: Die Geschäfte, die der Bundesrat derzeit vorantreibt, weisen in die Vergangenheit statt in die Zukunft.»

Aber sie führen halt auch in den Kanton Aargau. «Ein ökologisch hartes Pflaster», so beschreibt ihn der grüne Kantonalpräsident Daniel Hölzle aus Zofingen. Eine Mehrheit befürwortet im Kanton, dessen eigentliches Zentrum die A1 ist, den Ausbau der Autobahnen. Ebenso unterstützt man hier, am Standort der Atomkraftwerke Beznau 1 und 2 sowie Leibstadt, die Aufhebung eines AKW-Bauverbots. Das Wahlergebnis vom Sonntag bezeichnet Hölzle zwar selbstkritisch als «klares Desaster», gleichzeitig hat es für ihn nicht nur mit seiner Partei, sondern auch mit seinem Kanton zu tun. Der Aargau sei nicht nur beim Umweltschutz mitnichten die Durchschnittschweiz, als die er gerne dargestellt werde. «Auch die Politisierung auf Kosten von Migrant:innen und Geflüchteten hat hier eine lange Tradition», sagt Hölzle.

Der 43-jährige Schulleiter ist in Brittnau im «Wilden Westen» des Aargaus aufgewachsen. Der dortige FDP-Gemeindepräsident habe Ende der Achtziger medienwirksam tamilische Flüchtlinge an den Kanton zurückgeschickt. «Er war eine Art Vorgänger des heutigen SVP-Nationalrats Andreas Glarner.» Die konservative Grundhaltung im Aargau habe strukturelle Gründe: Der Kanton sei zwar gross, von der Fläche wie auch von der Bevölkerungszahl her, aber weil es im Aargau keine Grossstadt und auch keine Universität gebe, zögen viele weg, die hier aufwüchsen. «Wir verlieren immer wieder junge Leute, die sich bei den jungen Grünen engagieren und dort tolle Arbeit leisten, weil sie fürs Studium nach Zürich, Bern oder Basel gehen», sagt Hölzle. Gleichzeitig ist es schwierig, die Zuzüger:innen in den Agglomerationen, die meist ausserhalb arbeiten, für die kantonale Politik zu begeistern.

Vom Braindrain am einen Ort profitiert ein anderer: Dass die Grünen in Basel ihre Sitze halten konnten, habe vor allem mit einer vorausschauenden Personalplanung zu tun, erzählt Fleur Weibel. «Wichtig war, dass insbesondere das aktuelle Kopräsidium der Kantonalpartei viel in den Personalaufbau investiert hat. Es sind im aktuellen Wahlkampf deutlich mehr Mitglieder und Kandidierende aktiv gewesen als vor vier Jahren, als wir noch zusammen mit der BastA! angetreten sind», so Weibel. Man habe auch vom Jungen Grünen Bündnis profitieren können, das den Wahlkampf stark auf Social Media ausgerichtet habe. Im Vergleich zu vor vier Jahren habe eine deutliche strukturelle Professionalisierung innerhalb der Partei stattgefunden.

Die 41-jährige Weibel, die beruflich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Gender Studies der Universität Basel tätig ist, wurde vor vier Jahren selbst «überraschend» in den Grossen Rat gewählt, soeben hat sie überzeugend ihre Wiederwahl geschafft. Es sei allerdings ein «hartes Stück Arbeit» gewesen, alle Sitze zu halten, sagt sie. «Wir haben gewusst, dass der Wahlkampf für uns Grüne schwierig wird, ökologische Themen oder auch die Gleichstellung haben im Vergleich zu vor vier Jahren keine Konjunktur.» Aus diesem Bewusstsein heraus hätten viele Kandidat:innen einen sehr engagierten Wahlkampf geführt.

Für die Grünen in Basel-Stadt liegt gar noch mehr drin: Am 24. November kommt es zur Stichwahl um den letzten Sitz in der Basler Regierung. Die grüne Kandidatin Anina Ineichen tritt gegen die bisherige Baudirektorin Esther Keller von der GLP an, die das absolute Mehr am Sonntag verfehlt hat. Die Wahlchancen von Ineichen – und damit eine Rückkehr in den Regierungsrat nach vier Jahren – sind intakt.

Erschütterte Wähler:innen

Lisa Mazzone hat seit ihrem Amtsantritt im April dieses Jahres fast alle grünen Kantonalsektionen besucht. Einen Stadt-Land-Graben will sie keinen ausmachen. «Gerade auf dem Land haben wir engagierte Mitglieder.» Auch sei man daran, neue Sektion zu gründen: So geschehen etwa in Mellikon im Aargau, wo die Grünen am Sonntag fast dreissig Prozent Wähler:innenanteil erreichten. Im Kanton Appenzell-Ausserrhoden ist sogar eine neue Kantonalpartei am Entstehen. Doch bei allem Engagement der Mitglieder – bei den Wähler:innen der Grünen stelle sie eine eigentliche Paralyse fest: «Leute, die uns nahestehen, sind erschüttert vom bürgerlichen Backlash.» Dass die rechten Parteien die Grünen als Feindbild kultivierten, entfalte eine fatale Wirkung. «Die ständigen Angriffe auf die Grünen in Deutschland, nicht nur von der AfD, sondern auch von der CDU unter Friedrich Merz, entfalten auch in der Schweiz eine Wirkung.» Hinzu kämen die Fake News zur Klimakrise, wie sie der neue SVP-Präsident Marcel Dettling verbreite.

Und doch, hat die Partei auch hausgemachte Probleme? Ebenfalls am Montag wurde bekannt, dass die Generalsekretärin Rahel Estermann vor zwei Wochen ihre Stelle gekündigt hat. Estermann wolle sich beruflich neu orientieren, Differenzen habe es keine gegeben, sagt Mazzone. Sie räumt allerdings ein, dass die Kantonalparteien einen «unterschiedlichen Formstand» hätten. Die Grünen Schweiz lancieren deshalb nun das Programm «Avenir Vert»: Es soll die Mobilisierung stärken und insbesondere beim Generationenwechsel in den Sektionen behilflich sein. Auch die Vernetzung und den Wissensaustausch unter den Mitgliedern will Mazzone stärken. Am 2. November findet in Biel erstmals ein grüner Kongress unter dem Titel «Sommet du changement» (Zusammenkunft zur Veränderung) statt. Grüne aus der ganzen Schweiz werden einen Tag lang über das Thema Postwachstum diskutieren, der Kongress ist bereits ausgebucht.

Bekannter internationaler Gast ist der dänische Soziologe Nikolaj Schultz, der mit dem Buch «Landkrank» für Furore sorgte: Es handelt davon, weshalb die planetaren Grenzen nach einem neuen Freiheitsbegriff rufen – Freiheit nicht bloss verstanden als individuelle Selbstverwirklichung, sondern als Interaktion in funktionierenden Gemeinschaften.

Wie beurteilt man derweil die Situation bei der politischen Partnerin, die immer auch ein Stück weit Konkurrentin ist? Cédric Wermuth, Kopräsident der SP und selbst Aargauer, kann die Enttäuschung über die Wahlresultate vom Sonntag nicht ganz verbergen: Einmal mehr hat seine Partei stagniert, ihre kantonale Bilanz seit den eidgenössischen Wahlen ist ein Nullsummenspiel. Was auch bedeutet: Sie kann die Verluste der Grünen derzeit nicht kompensieren. Auch für Wermuth ist klar: «Es liegt an der Demobilisierung der eigenen Leute.» Die bürgerlichen Parteien hätten es geschafft, den gesellschaftlichen Aufbruch, der vom Klimastreik und dem feministischen Streik ausgegangen sei, im Parlament abzuwürgen. Ausserdem sei es fatal, dass die FDP der SVP nacheifere. «Dass sie nun im Aargau einen Sitz gewonnen hat, wird von einigen in der FDP als Bestätigung verstanden. Offenbar merkt sie nicht, dass sie damit nur programmatisch die SVP stärkt, die um ein Vielfaches zulegt.»

Offensive in der Agglo

Pessimistisch gibt sich aber auch Wermuth nicht: In der langen Sicht könnten sich die Linken in der Schweiz im Vergleich zu den Nachbarländern gut halten – und vor allem gewinne man derzeit die sozialpolitischen Abstimmungen haushoch. «Ein Coup wie jener bei der 13. AHV-Rente wird sich erst verspätet auf die Wahlergebnisse niederschlagen.» Bei den Referenden gibt es derzeit Mehrheiten für die Linken, bei den Wahlen Mehrheiten für Rechtsaussen. Wie erklärt sich Wermuth diesen Widerspruch? Er sieht in der Entwicklung eine «sozial-autoritäre Welle», die gleichzeitig Mehrheiten für solidarische Lösungen wie die 13. Rente möglich mache, aber eben rechts auch gegen Geflüchtete drehen könne. Damit sich Ersteres durchsetze, bräuchten die Wähler:innen konkrete solidarische Erfahrungen. Politik beginne schliesslich weit vor dem Engagement in einer Partei.

Wermuth will deshalb die Zusammenarbeit mit den Vorfeldorganisationen stärken, den Gewerkschaften, dem Mieterinnen- und Mieterverband, den NGOs. «Und statt dass sich Grüne und SP in den Städten um wenige Prozentpunkte streiten, würden wir besser gemeinsam diejenigen motivieren, die nicht mehr an die Politik glauben, gerade in den Arbeiter:innen- und Mittelklassen in der Agglomeration.» Also jene Zuzüger:innen, die sich kaum für die kantonale Politik interessieren, aber vielleicht für die nationale.

Einen Schritt weiter geht Wermuths Zofinger Nachbar, der grüne Kantonalpräsident Daniel Hölzle: «Meiner Ansicht nach könnte man sich im linken Lager gut überlegen, ob die Grünen und die SP nicht enger zusammenarbeiten oder gar fusionieren wollen.» Gerade in den Gemeinden gibt es aus seiner Sicht eine kritische Grösse, die eine Partei brauche, damit etwas ins Rollen komme. «Die SVP hat diese. Grüne und SP verzetteln sich unnötig.» Ob eine solche Fusion rasch kommt, da ist Hölzle skeptisch: Vermutlich sei man in Bundesbern dafür zu wenig progressiv. Die Statistik allerdings hat er auf seiner Seite: Gemeinsam wären SP und Grüne auf Bundesebene weiterhin die grösste Partei der Schweiz.