Der tiefe Fall der Schweizer Freisinnigen
Das Resultat der jüngsten Wahlen erzählt viel über die historische Verflechtung von Wirtschaft und Politik
Tritt man in der Schweizer Wirtschaftsmetropole Zürich aus dem Hauptbahnhof, so stößt man nicht auf die Statue eines Königs, eines Feldherrn oder Revolutionärs, sondern auf die eines Großkapitalisten: Die mächtige Bronzestatue von Alfred Escher (1819–1892) blickt die Bahnhofsstraße hinab, wo am Paradeplatz die Großbanken ihren Hauptsitz haben.
Escher, im Volksmund der Eisenbahnbaron genannt, ließ unter anderem den Gotthardtunnel in Richtung Süden bauen, von italienischen Arbeitern und unter unmenschlichen Bedingungen. Zur Finanzierung des Tunnels gründete er eigens eine Bank, jene Kreditanstalt, die später Credit Suisse heißen sollte. Als einer der ersten Nationalräte zog er 1848 ins Parlament des neugeschaffenen Bundesstaats Schweiz ein. Nur Bundesrat wurde er nie: Wohl wissend, dass die Macht in der Schweiz nicht bei der Regierung liegt, sondern in Netzwerken begründet ist, insbesondere in wirtschaftlichen.
Bis heute steht das „System E.“, das bereits Eschers Zeitgenossen kritisierten, beispielhaft für die Firma namens Schweiz. Für einen Staat also, der in erster Linie dazu da ist, gute Rahmenbedingungen für die Profite der Privatwirtschaft zu schaffen, vorzugsweise durch Steuerdumping. Für ein Land, das Handel treibt mit allen Weltgegenden, ohne sich selbst in transnationale Organisationen einzubinden. Und für die historischen Lügen über die eigene Schaffens- und Willenskraft: Das Familienvermögen und damit das Startkapital des jungen Escher beruhte, das zeigt die neuere Forschung, unter anderem auf einer Sklavenhalterplantage auf Kuba.
Dieses Jahr nun wurde das System E. – oder zumindest das, was davon übriggeblieben ist – erschüttert: Im Frühling verlor die von Escher gegründete Großbank Credit Suisse das Vertrauen der Finanzmärkte und wurde mit der gütigen Hilfe und den Milliarden des Schweizer Staats und der Nationalbank von der Konkurrentin UBS übernommen. Im Herbst dann bei den Parlamentswahlen vom 22. Oktober verlor die wirtschaftsliberale FDP, die als politische Strömung in der Schweiz „Freisinn“ genannt wird und in der historischen Nachfolge von Escher steht: Sowohl im größeren Nationalrat, der die Bevölkerung vertritt, als auch im kleineren Ständerat, wo die Kantone repräsentiert sind, fiel sie bei der Zahl der Mandate hinter die konservative Partei Die Mitte zurück.
Als wäre es ein Treppenwitz der Geschichte, ereignete sich all das ausgerechnet im 175. Jubiläumsjahr der Bundesstaatsgründung. 1847 hatten sich Liberale und Radikale gegen Konservative und Reaktionäre im sogenannten Sonderbundskrieg durchgesetzt, einem Bürgerkrieg, der im Ausland weit weniger bekannt ist als die mythischen Sagen von Wilhelm Tell und den alten Eidgenossen. Ein Jahr nach dem Bürgerkrieg rief die moderne Schweiz, umgeben von Monarchien, die demokratische Republik aus.
Diese geglückte liberale Revolution trägt bis heute zum historischen Selbst- und Sendungsbewusstsein der Schweizer FDP bei: Groß waren entsprechend die Worte von Parteipräsident Thierry Burkart zu Beginn des Wahlkampfs am „Tag der FDP“. Der Freisinn sei die Kraft, „die dieses Land mit Abstand am meisten geprägt und gestaltet hat und es auch in Zukunft tun wird“. Seine Zielvorgabe war es, die zweitstärkste Kraft, die Sozialdemokratie, zu überholen. „Das liberale Feuer brennt lichterloh“, rief der Vorsitzende den Delegierten zu. Auf der Bühne flammte ein Feuerwerk auf, aus den Boxen dröhnte der Diskostampfer „The Final Countdown“.
Doch die Partei sollte bei den Wahlen nicht abheben, sondern abstürzen. Die Antwort auf die Frage, warum die FDP scheiterte, weist dabei über die Schweiz hinaus und ist so wohl auch für weitere europäische Staaten gültig, in denen autoritäre Parteien auf dem Vormarsch sind: Sie zeigt nämlich, wie unterschiedlich sich liberale oder konservative Parteien zu Rechtspopulist:innen verhalten können – und welches Ergebnis die jeweiligen Strategien der Anpassung beziehungsweise der Eigenständigkeit zur Folge haben.
Die FDP setzte im Wahljahr 2023 auf Anbiederung: In fast der Hälfte der Kantone (die in der Schweiz die Wahlkreise bilden) ging sie mit der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) Listenverbindungen ein, um damit die Stimmen für die Proporzverteilung der Mandate zu addieren. In zahlreichen Kantonen zog sie zudem bei zweiten Wahlgängen für den Ständerat, dessen Sitze nach dem Mehrheitsprinzip vergeben werden, ihre Kandidat:innen zugunsten der SVP zurück.
Die besten Freunde der Rechtspopulisten
Beispielhaft zeigte sich diese Unterordnung im Kanton Zürich, seit Eschers Tagen eine Hochburg des Freisinns. Hier trat der langjährige FDP-Ständerat Ruedi Noser nicht mehr zur Wahl an. Neben seiner politischen Tätigkeit war Noser Mitglied im Verwaltungsrat der Credit Suisse Asset Management Schweiz AG gewesen. Diese hatte sich bei Geschäften mit der Lieferketten-Finanzierungsgesellschaft Greensill Capital verspekuliert – und damit wesentlich zum Ruin der gesamten CS beigetragen. Noser focht das alles nicht an: Bei der Abstimmung über die Staatsrettung der Großbank nahm der Ständerat trotz offenkundiger Befangenheit teil.
Weil die Schweiz bis heute kein Verbot solcher Nebenämter kennt, trat Noser aus Altersgründen zurück, nach seinem Selbstverständnis als Ehrenmann: „Ich setze mich nicht für oder gegen die CS ein. Sondern für die Gesamtwirtschaft. Die Kinder in der Schweiz müssen eine Zukunft haben. Sonst kleben sie sich am Teer fest“, äußerte er mit Verweis auf die Klimaaktivist:innen zur Wochenzeitung WOZ.
Den Preis für die innige Verbindung zwischen Partei und Wirtschaft zahlte an seiner statt die FDP-Kandidatin, die ihm ins Amt folgen sollte: Regine Sauter – ihres Zeichens im Nebenamt Direktorin der Zürcher Handelskammer sowie Präsidentin eines Spitalverbunds. Sie erzielte in der ersten Wahlrunde ein schwaches Resultat. Daraufhin entzog ihr das Forum Zürich, ein formloser Zusammenschluss von Wirtschaftsverbänden, die Unterstützung und forcierte stattdessen den SVP-Kandidaten Gregor Rutz. Die Stichwahl schließlich gewann Tiana Moser, die Kandidatin der Grünliberalen Partei (GLP) – einer Partei, wie es sie wohl nur in der Schweiz als Land der liberalen Revolution gibt: Ihre Ausrichtung ist ökologisch und marktgläubig zugleich.
Ihre Anbiederung an die Rechtspopulisten betrieb die FDP nicht nur in strategischer Hinsicht, sondern auch inhaltlich. Wohl um von der eigenen Verflechtung in das CS-Debakel abzulenken und mangels eigener Rezepte gegen die steigenden Preise und Mieten, setzte sie auf Ressentiments gegen Geflüchtete: So war es die FDP und nicht etwa die SVP, die kurz vor der Wahl die Entscheidung des Staatssekretariats für Migration zugunsten einer grundsätzlichen Aufnahme von geflüchteten Frauen aus Afghanistan harsch kritisierte. Auch nach der Wahlniederlage forderte Präsident Burkart als Erstes die rigorose Ausweisung von abgewiesenen Asylsuchenden.
Doch wie so oft in der Geschichte profitierte von derlei Anbiederung nur das Original: Die SVP, die in ihrer Kampagne vor einem – für die kleinräumige Schweiz angeblich bedrohlichen – Bevölkerungswachstum wegen zu viel Einwanderung gewarnt hatte, legte im Nationalrat um neun Sitze zu, erlitt allerdings im Ständerat leichte Einbußen. Weil dieser Zuwachs nur wenig überraschend kam, sind die eigentlichen Wahlsieger vor allem zwei Parteien, die mit leichten Sitzgewinnen je eine Trendwende einleiten konnten: die Partei Die Mitte sowie die Sozialdemokratie. Die Mitte ist erst im Januar 2021 aus der vormaligen Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) sowie einer Abspaltung der SVP entstanden. Mit dem neuen Label, das auf das christliche Glaubensbekenntnis verzichtet, wollte sie neue, jüngere Wähler:innen insbesondere auch in städtischen Regionen ansprechen. Eine Rechnung, die offenbar aufgegangen ist.
Wohin die Reise dieser neuen Parteiformation programmatisch geht, ist zwar so offen wie die Leerformel von der „Mitte“ im Namen. Die meisten gewählten Ratsmitglieder stehen rechts, mit allenfalls leichtem sozialen Einschlag. Erkennbar ist nur, dass sie sich im Gegensatz zur FDP klar von der SVP distanziert. In einem vielbeachteten Interview nach der Parlamentswahl sagte ihr Parteipräsident Gerhard Pfister in der Neuen Zürcher Zeitung: „Christoph Blocher hat den Bürgerblock gesprengt.“
Der Milliardär Blocher hatte in den 1990ern die SVP zur einflussreichen politischen Kraft in der Schweiz entwickelt, Ausgangspunkt war die Ablehnung eines möglichen Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Mit ihren rassistischen Hetzkampagnen wurde die SVP zum Vorbild für zahlreiche andere rechtspopulistische Parteien in Europa. In seltener Klarheit meinte Pfister in besagtem Interview: „Ein Großteil unserer Basis will mit der SVP nichts zu tun haben, aus inhaltlichen Gründen, wegen Fragen wie Anstand und Stil und wegen einer anderen Haltung gegenüber unseren Institutionen.“
Auch zurückgemeldet hat sich die Sozialdemokratie (SP), die ihren Wähleranteil wieder auf über 18 Prozent steigerte und damit entgegen der Kampfansage der FDP die zweitstärkste Partei bleibt. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Partei von Mattea Meyer und Cédric Wermuth geleitet wird: einem jungen Duo, das sich dezidiert links positioniert. Aller Medienhäme zum Trotz stellte die SP im Wahlkampf die soziale Frage ins Zentrum – und konnte damit breit mobilisieren: Die neue, ebenfalls eher junge SP-Fraktion reicht vom Gewerkschafter bis zur Queer-Aktivistin und ist insofern auch ein Ausdruck dessen, dass identitäts- und klassenpolitische Ansätze einander nicht ausschließen müssen, sondern sich im besten Fall verstärken können.
Der Erfolg der SP allerdings geht zu einem beträchtlichen Teil zulasten der Grünen wie auch der Grünliberalen Partei. Diesen gelang es nicht mehr wie bei ihrem Großerfolg vor vier Jahren, die Dringlichkeit der Maßnahmen gegen die Klimaerwärmung zum Hauptthema des Wahlkampfs zu machen. Damals sprach man angesichts der Zugewinne für das ökologische Lager von einer „grünen Welle“. Beide Parteien sind allerdings noch immer deutlich stärker als vor acht Jahren.
So geringfügig die Verschiebungen zwischen den Parteien letztlich sind, so stark hat sich dennoch die Schweizer Politik über diese Wahlen verändert. Neuerdings haben sich – mehr noch im eigenen Selbstverständnis denn im Resultat – drei Blöcke gebildet: Ein sozial-ökologischer (Grüne und SP), ein grünliberal-bürgerlicher (GLP und Mitte) sowie ein neoliberal-rechtspopulistischer (FDP und SVP). Eine Ausgangslage, mit der auch die sogenannte Zauberformel des Bundesrats infrage gestellt ist. Nach dieser informellen Regelung setzt sich die siebenköpfige Mehrparteienregierung zusammen.
Insbesondere FDP-Präsident Burkart hatte stets betont, dass gemäß dieser Formel den drei größten Parteien zwei Sitze zustünden. Nun ist seine Partei allerdings nur noch die viertstärkste und müsste demnach einen ihrer beiden Sitze an die Mitte abtreten. Diese wiederum will mit der üblichen Schweizer Vorsicht bei den am 13. Dezember anstehenden Bundesratswahlen bloß keine amtierenden Bundesräte abwählen – weshalb sich an der Zusammensetzung der Schweizer Regierung mit je zwei Vertreter:innen von SVP, FDP, SP und einem Platz für die Mitte kaum etwas ändern dürfte.
Dennoch bleibt das Hauptresultat dieser Wahlen, dass zumindest arithmetisch just im Jubiläumsjahr des liberalen Bundesstaats Schweiz die rechte Mehrheit von SVP und FDP in der Regierung gebrochen ist. Wenn die Mitte ihre Eigenständigkeit bewahrt und die Linke ihren Aufschwung beibehalten kann, dürfte sie spätestens 2027 auch in der Realität beendet sein: Vielleicht dann auch mit einer Kandidatur der Grünen. Im besten Fall bedeutet der Absturz der FDP schon jetzt, dass sich die Schweiz wieder ein bisschen mehr als Demokratie und ein bisschen weniger als Firma versteht. Dann würde die Escher-Statue am Zürcher Hauptbahnhof zwar weiterhin in die Alpen, vor allem aber in die Vergangenheit weisen.
Kaspar Surber ist Redakteur der Wochenzeitung WOZ in Zürich.
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